In Deutschland müssen die Verbraucher derzeit 5,3 Prozent mehr für ihre Lebenshaltung aufwenden als im Vorjahr. Das ist heftig. Noch heftiger aber hat es die Bürger in der Türkei erwischt. Sie müssen 36 Prozent mehr von der Landeswährung Lira für Güter und Dienste auf den Tisch legen als im Vorjahr. Nahezu täglich ändern die Händler auf den Märkten und in den Geschäften daher die Preisschilder für ihre Waren. Viele Lebensmittel, darunter Fleisch, sind für große Teile der türkischen Bevölkerung Luxuswaren geworden.
Angesichts der zweistelligen Inflationsraten wäre die Zentralbank gut beraten, rasch auf die geldpolitische Bremse zu treten und die Zinszügel anzuziehen. Doch Pustekuchen. Bei ihrem Treffen am Donnerstag ließen die Notenbanker die Leitzinsen unverändert bei 14 Prozent. Der Grund: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lehnt höhere Zinsen ab. Sie beschleunigten die Inflation, behauptet er - und widerspricht damit allen ökonomischen Theorien.
Der wahre Grund für Erdogans Aversion gegen höhere Zinsen dürfte ein anderer sein: Erdogan fürchtet, höhere Leitzinsen könnten die Konjunktur abwürgen und dadurch seine Chancen auf einen Sieg bei der Präsidentschaftswahl schmälern, die bis spätestens Juni 2023 stattfinden muss.
Seit Jahren schon befindet sich die türkische Zentralbank am Gängelband der Politik. Erdogan besetzt den Spitzenjob bei der Notenbank nach persönlichem Gusto mit seinen Gefolgsleuten - und schmeißt sie gnadenlos wieder raus, wenn sie gegen seine Zinsempfehlungen aufmucken.
Der Rückhalt Erdogans in der Bevölkerung schwindet
Die zweistelligen Inflationsraten, unter denen die Türkei leidet, sind nicht das Resultat der Attacken ausländischer Finanzmächte oder „ungerechter“ Preiserhöhungen, wie Erdogan glauben machen will. Sie sind das Ergebnis der Politisierung des Zinses. Seit dem Spätsommer hat die türkische Zentralbank auf Erdogans Geheiß den Leitzinssatz von 19 auf 14 Prozent gesenkt, trotz der hohen Inflation. Die türkische Lira hat daraufhin bis Ende vergangenen Jahres rund die Hälfte ihres Wertes verloren. Das hat die Importe verteuert und die Inflation beschleunigt.
Angesichts des Kaufkraftverlusts der Lira und der spürbaren Einbußen beim Lebensstandard ist die Zustimmung in der türkischen Bevölkerung zu Erdogans Politik drastisch gesunken. Umfragen zufolge stehen nur noch 30 Prozent der Türken hinter ihrem Staatspräsidenten, so wenig wie noch nie in den zwei Dekaden seiner Amtszeit. Selbst viele seiner Stammwähler wenden sich von ihm ab.
Um die Bürger zu kalmieren, hat Erdogan Maßnahmen angeordnet, die das Leben mit der hohen Inflation erleichtern sollen. So hob die Regierung jüngst den Mindestlohn um 50 Prozent an. Für die reale Kaufkraft der Bürger ist dadurch jedoch nicht viel gewonnen. Denn die Unternehmen geben die zusätzlichen Lohnkosten in den Verkaufspreisen an die Konsumenten weiter. Das beschleunigt die Lohn-Preis-Spirale.
Die Ökonomen der Investmentbank Goldman Sachs gehen daher davon aus, dass die Teuerungsrate bereits in diesem Monat die Marke von 40 Prozent überspringt und in den Folgemonaten über 50 Prozent hinausschießen wird. „Die extrem negativen Realzinsen und das starke Kreditwachstum dürften die Inflation hochhalten und anhaltenden Abwärtsdruck auf die Lira ausüben“, schreiben die Goldman-Ökonomen.
Die Idee mit den kursgeschützten Konten zündet nicht
Die Bürger haben daher das Vertrauen in die Lira verloren. Um es wieder herzustellen, kündigte Erdogan Ende Dezember an, den Bürgern bei staatlichen Banken kursgesicherte Lira-Konten anzubieten. Werden die Einlagen fällig, erstatte der Staat den Sparern die bis dahin angefallenen Abwertungsverluste der Lira, verspricht Erdogan. Das Kalkül dahinter: Die Bürger sollen ihre Devisen- und Goldbestände in Lira umtauschen und auf das kursgesicherte Konto einzahlen, um die Nachfrage nach Lira und deren Kurs zu stützen. Die staatlichen Banken bieten ihnen für das Geld auf den neuen Konten bis zu 19 Prozent Zinsen.
Tatsächlich kam es nach Erdogans Ankündigung zunächst zu einer kurzen Rally der Lira. Mittlerweile aber ist sie vorbei und die Lira steht wieder unter Druck. Denn statt Dollar, Euros und Gold in Lira zu tauschen, haben die Bürger lediglich Lira von ihren ungeschützten Konten auf die kursgeschützten Konten umgebucht. Einen Nachweis, woher das eingezahlte Geld stammt, mussten sie nicht erbringen.
Jüngst hat die Regierung das Angebot kursgeschützter Lira-Konten auf Geschäftskonten erweitert. Nach Regierungsangaben haben bisher 300.000 Kunden umgerechnet knapp zehn Milliarden Dollar auf die neuen Lira-Konten eingezahlt. Allerdings stammten davon nur 15 Prozent von Fremdwährungskonten. Zu wenig, um den Außenwert der Lira gegenüber Dollar und Euro zu steigern.
Hilfe aus dem Ausland für die Lira
Auch die Interventionen der Notenbank auf dem Devisenmarkt haben es bisher nicht vermocht, die Lira zu stabilisieren. Die Teilnehmer an den Märkten wissen, dass die Feuerkraft der Zentralbank wegen ihrer knappen Devisenreserven begrenzt ist. Erdogan bittet daher mit dem Hut in der Hand befreundete Staaten um finanzielle Unterstützung. Katar hat der Türkei bereits einen Zehn-Milliarden-Dollar-Kredit zugesagt. Mitte der Woche gab die türkische Zentralbank den Abschluss eines Swap-Abkommens mit der Zentralbank der Vereinigten Arabischen Emirate über fünf Milliarden Dollar bekannt. Auch mit China und Südkorea bestehen Swap-Verträge. Im Februar will Erdogan mit Geldgebern aus Saudi-Arabien reden.
Die knappen Devisenreserven sind vor allem für die türkischen Unternehmen, die in hohem Maße in Fremdwährungen im Ausland verschuldet sind, ein Problem. Für türkische Unternehmen und Banken sei es daher „essenziell, dass der Zugang zum internationalen Finanzierungsmarkt bestehen bleibt“, schreiben die Ökonomen der DekaBank in einer aktuellen Studie.
In vergangenen Krisen war das der Fall. Ob das auch in Zukunft so bleibt, hängt nicht zuletzt vom Verhalten Erdogans ab. Je größer die ökonomischen Schäden, die er mit seinen geldpolitischen Dekreten verursacht, desto größer die Verführung, außenpolitisch auf Konfliktkurs zu gehen, um seine Anhänger vor der Wahl hinter sich zu scharen. Erdogan mag ein miserabler Ökonom sein, aber er ist ein machiavellistischer Stratege. In den nächsten Monaten könnte er daher noch so manche geopolitische Karte aus dem Ärmel ziehen, um an der Macht zu bleiben – auch wenn dies mit internationalen Kollateralschäden verbunden ist und die türkische Wirtschaft weiter in die Krise treibt.
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