Türkei EU-Beitritt? „Nur noch diplomatische Fiktion“

Österreichs Kanzler spricht Klartext: Nach dem Putschversuch in der Türkei fordert Kern ein „alternatives Konzept“ statt EU-Beitrittsverhandlungen. Ankara bleibe wichtiger Partner. Doch „ Bittsteller“ sei der Westen nicht.

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Österreichs Bundekanzler Christian Kern fordert ein „ alternatives Konzept“ für die Türkei. Quelle: Reuters

Wien Österreich will in der EU den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zur Diskussion stellen. Bundeskanzler Christian Kern wolle das Thema am 16. September im Europäischen Rat auf den Tisch legen, sagte der sozialdemokratische Politiker am Mittwochabend im ORF-Fernsehen.

„Es braucht ein alternatives Konzept“, fügte Kern hinzu. Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien „nur noch diplomatische Fiktion“. Zuvor hatte Kern bereits in einem Interview für die Donnerstagausgabe der Wiener Tageszeitung „Die Presse“ gesagt: „Wir wissen, dass die demokratischen Standards der Türkei bei Weitem nicht ausreichen, um einen Beitritt zu rechtfertigen.“

Auch die Wirtschaft der Türkei sei weit entfernt vom europäischen Durchschnitt, führte der Bundeskanzler in der Zeitung „Die Presse“ weiter aus. So gebe es schon im Hinblick auf den Zugang von Menschen aus südost- und zentraleuropäischen Staaten zum EU-Arbeitsmarkt erhebliche „Disparitäten“. Dabei sei bei diesen Herkunftsländern der Abstand zum Lohnniveau noch vergleichsweise klein.

Allerdings sei die Türkei in sicherheitspolitischen Fragen ein wichtiger Partner, etwa beim Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Dass Ankara als Reaktion auf eine schwindende EU-Perspektive den Flüchtlingsdeal mit der EU platzen lassen würde, glaubt Kern nicht. „Wir sind gegenüber der Türkei kein Bittsteller, wir sind einer der größten Investoren, der türkische Tourismus hängt an uns und was man nicht vergessen darf, der Westen finanziert das Leistungsdefizit der Türkei.“

Die EU und die Türkei verhandeln seit 2005 über einen Beitritt. Wegen der repressiven Reaktion der türkischen Regierung auf den Putschversuch hatten in den vergangenen Wochen viele europäischen Politiker den Sinn dieser Verhandlungen in Frage gestellt. Mehrere EU-Politiker haben deutlich gemacht, dass eine Wiedereinführung der Todesstrafe ein Ende der Beitrittsgespräche mit der Türkei bedeuten würde.


„Wir sind gegenüber der Türkei kein Bittsteller“

Am Montag hatte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz sich gegen Forderungen der Türkei nach Visafreiheit für ihre Bürger in der EU bis Oktober gestellt. Zugleich wandte sich der ÖVP-Politiker gegen Erpressungsversuche durch die Regierung in Ankara mit Hilfe des Flüchtlingsdeals.

Kurz reagierte damit laut APA auf Äußerungen seines türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu. Dieser hatte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Montag) gesagt: „Wenn es nicht zu einer Visaliberalisierung kommt, werden wir gezwungen sein, vom Rücknahmeabkommen und der Vereinbarung vom 18. März Abstand zu nehmen.“

Deutsche Politiker sind bisher für den Fortbestand des Flüchtlingsabkommens: Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hat die Verhältnisse in der Türkei kritisiert und gleichzeitig die Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen des Flüchtlingsabkommens eingefordert. Der Putsch von Teilen des Militärs sei eine Katastrophe gewesen, sagte Scholz der Deutschen Presse-Agentur. „Aber das, was jetzt als Gegenmaßnahme von der Regierung durchgesetzt wird, die Ausprägung des dortigen Ausnahmezustandes, entspricht auch nicht unseren Vorstellungen von Recht und Gesetz.“

Die Bedingungen, die die Europäische Union im Rahmen des Abkommens formuliert habe, würden unverändert gelten. „Da wird es keine Abstriche geben“, erklärte Scholz mit Blick auf die Forderungen Ankaras nach einer schnellen Einführung der Visa-Erleichterungen.

Gleichzeitig verwies Hamburgs Bürgermeister auf die gemeinsame Verantwortung der beteiligten Länder. Bei der Vereinbarung gehe es ja nicht darum, wie man die Türkei finde, sondern darum, was am besten für Flüchtlinge sei. „Und da haben wir doch aus dem letzten Jahr gelernt, dass eine Verantwortungsteilung zwischen den Staaten, wo die Flüchtlinge zuerst ankommen und wo sich die meisten aufhalten - Libanon, Jordanien, Türkei -, und der Europäischen Union unabdingbar ist.“

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