Türkei im Ausnahmezustand Der Türkei droht ein Brain-Drain

Nach dem gescheiterten Putsch greift der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hart durch. Zehntausende Professoren und Lehrer wurden im Zuge der „Säuberungsaktionen“ suspendiert. Jetzt droht dem Land ein Exodus talentierter Studenten.

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Seit Tagen feiern Türken auf dem Taksim-Platz. Andere feiern nicht. Sie haben Angst. Quelle: dpa Picture-Alliance

Istanbul, Mittwochnacht 23 Uhr: Am Taksim-Platz im Herzen der Stadt schwenken Erdogan-Anhänger seit Stunden rote Fahnen. Männer und Frauen, manche mit Kopftuch aber nicht alle, jubeln. Kinder essen Popcorn, Teenager kichern sich gegenseitig an.

Zwischen den Ansprachen peitschen theatralische Lieder die Menge ein. Eine Großleinwand wurde aufgebaut, noch vor Mitternacht will der Präsident „etwas Bedeutsames verkünden“. Seit Tagen ist der öffentliche Nahverkehr kostenlos, die Mobilfunkbetreiber verschenken Frei-Minuten und SMS. Die Botschaft: Die Leute sollen auf die Straßen gehen, und die Niederschlagung des Putsches feiern. So geht das seit Tagen.

Wer nicht mitfeiert, hat Angst. „Gestern rief mich meine Mutter an“, sagt Özlem, eine junge Türkin, die für einem internationalen Konzern tätig ist. „Ich dachte mir, sie will mir wieder raten, keinen Mini-Rock zu tragen. Stattdessen sagte sie: Erzähl bloß keinem, dass Du Alevitin bist.“

Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?

Özlem fürchtet, dass die Stimmung kippt und sich bald gegen alle Minderheiten im Land richtet. Ihren echten Namen möchte sie nicht nennen. So geht es fast allen, die nicht mitfeiern. Stillhalten, abwarten, schweigen.

„Hoffentlich wird es nicht noch schlimmer.“

Die Atmosphäre in Istanbul ist seit Tagen angespannt. Nur unter vorgehaltener Hand und gerunzelte Stirn sprechen viele: „Hoffentlich ist das alles bald vorbei“ ist einer der häufigsten Sätze, den man hört. „Hoffentlich wird es nicht noch schlimmer.“

Doch es wird schlimmer. Kurz vor Mitternacht erscheint Präsident Erdogan auf der Leinwand am Taksim-Platz. Er verkündet den Ausnahmezustand für drei Monate. Die Menge jubelt, der Platz ein wogendes Meer aus roten Fahnen. Feuerwerkskörper zünden.

Konkret bedeutet das: Für die Regierung wird es noch leichter werden, gegen vermeintliche Gegner vorzugehen. Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit können ab heute ohne Begründung eingeschränkt werden.

Dabei sprengen die Entlassungen und Verhaftungen schon jetzt jedes Maß: Seit dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Freitag wurden der Verteidigungsminister, zwei Verfassungsrichter, 200 Militärrichter verhaftet. 626 Privatschulen wurden geschlossen und 21000 Lehrer suspendiert. Hinzu kommen weitere 40000 Polizisten, Soldaten, Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst.

Junge Türkin: „Ich will so schnell wie möglich ins Ausland“

Da stellt sich die Frage, wie der Betrieb des Landes überhaupt noch reibungslos aufrecht erhalten werden kann. Im Moment versucht die Regierung, den Aderlass mit rigorosen Urlaubssperren zu kontern. Eine Mitarbeiterin im Finanzministerium erreichte der Anruf auf dem Weg zum Flughafen. Der Wander-Urlaub in Norwegen war seit Monaten geplant - und musste abgeblasen werden. Selbst in den Sprachschulen Tömer und Dilmer mussten Lehrer ihren Urlaub absagen oder abbrechen.

Am Mittwoch wurde zu dem ein Reiseverbot für Wissenschaftler verhängt. Professoren, Forscher und andere Akademiker dürfen das Land nicht mehr verlassen. Vordergründig soll so deren Verwicklung in den Coup untersucht werden. Der AKP-Regierung aber dürfte es auch darum gehen, einen drohenden Brain-Drain zu verhindern. Viele junge Türken, die die Möglichkeit haben, versuchen jetzt, ins Ausland zu gehen.

Das ist die Gülen-Bewegung

Study Portal, eine Website für internationale Ausbildungsoptionen, berichtet, in den letzten Tagen hätten sich die Zahl der Türken verdreifacht, die sich über Studiumsmöglichkeiten im Ausland informieren. Merve, 28, hatte sich gerade für einen MBA in Istanbul angemeldet, der im September beginnt. Jetzt bereut sie die Entscheidung. „Ich will so schnell wie möglich ins Ausland“, sagt sie.

„In ein oder zwei Monaten wird wieder Ruhe eingekehrt sein“

Denn mit wem die Lücken langfristig gefüllt werden sollen, ist nicht klar. Ein Dozent an einer der großen Universitäten in Istanbul ist geschockt. Am Mittwoch wurden die Dekane suspendiert. Mitarbeiter, die sich gerade im Ausland befinden - egal ob Urlaub oder Forschungsaufenthalt - wurden zurückbeordert.

„Es war schon früher nicht leicht, Studenten, die aus dem türkischen Schulsystem kommen, zu selbstständigen Denken zu ermuntern. Viele sind nur Auswendiglernen gewöhnt“, sagt er. Er rechnet damit, dass die Stellen mit Parteigängern nachbesetzt werden. „Wenn jetzt die Lehrpläne nach der Politik ausgerichtet werden, wird freies Denken unmöglich werden.“ Auch er möchte unbedingt anonym bleiben. Zu groß ist die Angst, seine Äußerungen können ihm zur Last gelegt werden.

Nicht alle sind so pessimistisch. Volkan Vural ist Vorstandmitglied von Tüsiad, der größten Unternehmervereinigung der Türkei, und entspannt. „Die Verhaftungen zeigen nur, wie groß der Einfluss der Gülen-Bewegung war“, sagt er. Seit den Siebziger Jahren habe die Bewegung den Staat infiltriert. Das harte Vorgehen der Regierung sei deswegen nur verständlich.

„Die türkische Bürokratie ist immens - die Stellen können schnell nachbesetzt werden.“ Dasselbe, glaubt Vural, werde im Universitätsbetrieb passieren. „In ein oder zwei Monaten wird aller Wahrscheinlichkeit nach wieder Ruhe eingekehrt sein“, sagt er. Zumindest diese Hoffnung dürften im Moment alle Türken teilen.

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