Türkei im Ausnahmezustand Der Türkei droht ein Brain-Drain

Seite 2/2

Junge Türkin: „Ich will so schnell wie möglich ins Ausland“

Da stellt sich die Frage, wie der Betrieb des Landes überhaupt noch reibungslos aufrecht erhalten werden kann. Im Moment versucht die Regierung, den Aderlass mit rigorosen Urlaubssperren zu kontern. Eine Mitarbeiterin im Finanzministerium erreichte der Anruf auf dem Weg zum Flughafen. Der Wander-Urlaub in Norwegen war seit Monaten geplant - und musste abgeblasen werden. Selbst in den Sprachschulen Tömer und Dilmer mussten Lehrer ihren Urlaub absagen oder abbrechen.

Am Mittwoch wurde zu dem ein Reiseverbot für Wissenschaftler verhängt. Professoren, Forscher und andere Akademiker dürfen das Land nicht mehr verlassen. Vordergründig soll so deren Verwicklung in den Coup untersucht werden. Der AKP-Regierung aber dürfte es auch darum gehen, einen drohenden Brain-Drain zu verhindern. Viele junge Türken, die die Möglichkeit haben, versuchen jetzt, ins Ausland zu gehen.

Das ist die Gülen-Bewegung

Study Portal, eine Website für internationale Ausbildungsoptionen, berichtet, in den letzten Tagen hätten sich die Zahl der Türken verdreifacht, die sich über Studiumsmöglichkeiten im Ausland informieren. Merve, 28, hatte sich gerade für einen MBA in Istanbul angemeldet, der im September beginnt. Jetzt bereut sie die Entscheidung. „Ich will so schnell wie möglich ins Ausland“, sagt sie.

„In ein oder zwei Monaten wird wieder Ruhe eingekehrt sein“

Denn mit wem die Lücken langfristig gefüllt werden sollen, ist nicht klar. Ein Dozent an einer der großen Universitäten in Istanbul ist geschockt. Am Mittwoch wurden die Dekane suspendiert. Mitarbeiter, die sich gerade im Ausland befinden - egal ob Urlaub oder Forschungsaufenthalt - wurden zurückbeordert.

„Es war schon früher nicht leicht, Studenten, die aus dem türkischen Schulsystem kommen, zu selbstständigen Denken zu ermuntern. Viele sind nur Auswendiglernen gewöhnt“, sagt er. Er rechnet damit, dass die Stellen mit Parteigängern nachbesetzt werden. „Wenn jetzt die Lehrpläne nach der Politik ausgerichtet werden, wird freies Denken unmöglich werden.“ Auch er möchte unbedingt anonym bleiben. Zu groß ist die Angst, seine Äußerungen können ihm zur Last gelegt werden.

Nicht alle sind so pessimistisch. Volkan Vural ist Vorstandmitglied von Tüsiad, der größten Unternehmervereinigung der Türkei, und entspannt. „Die Verhaftungen zeigen nur, wie groß der Einfluss der Gülen-Bewegung war“, sagt er. Seit den Siebziger Jahren habe die Bewegung den Staat infiltriert. Das harte Vorgehen der Regierung sei deswegen nur verständlich.

„Die türkische Bürokratie ist immens - die Stellen können schnell nachbesetzt werden.“ Dasselbe, glaubt Vural, werde im Universitätsbetrieb passieren. „In ein oder zwei Monaten wird aller Wahrscheinlichkeit nach wieder Ruhe eingekehrt sein“, sagt er. Zumindest diese Hoffnung dürften im Moment alle Türken teilen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%