Den wichtigsten Handelspartner seines Landes sieht Zekeriya Mete vom Schreibtisch aus. Der Unternehmer hat von seinem Büro in Istanbul einen guten Blick über den Bosporus – und damit auf Europa. In den Neunzigerjahren gründete Mete sein Handelsunternehmen, er importierte Lebensmittel aus dem Westen und verkaufte sie dann in der Türkei und Russland: Kaugummis, Olivenöl, Handcremes – alles, was es gab und dringend gebraucht wurde. „Damals war das ein Riesengeschäft, wir wuchsen rasant“, erinnert sich der Unternehmer.
Seit zwei Jahren jedoch laufen Metes Geschäfte schlechter, auch weil die Europäer immer weiter wegrücken, verschreckt von Terroranschlägen ebenso wie von der unberechenbaren Rhetorik von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Direktinvestitionen in der Türkei sind eingebrochen, das Handelsbilanzdefizit des Landes liegt bei etwa 62 Milliarden US-Dollar. „Wir spüren die Stagnation jeden Tag“, sagt Mete.
Wenn die ökonomische Abhängigkeit aber so stark ist, könnte mehr wirtschaftlicher Druck Erdoğan dann nicht zur Räson bringen, etwa in der hitzigen Debatte um Auftritte türkischer Politiker hierzulande? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat damit jüngst geliebäugelt, als er jeden Spielraum für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei ausschloss, solange der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel in der Türkei in Haft sei.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Doch wie viel Druck wäre überhaupt möglich? Immerhin sind die EU und die Türkei über eine Zollunion eng miteinander verbunden. Doch die europäischen Verträge stünden Sanktionen nicht im Wege, und dank der kontrollierbaren Grenze wären Ausfuhrbarrieren auch kein Problem.
Sie wären sogar höchst wirksam: „Die Türkei würde Sanktionen kaum verkraften“, sagt Erdal Yalcin, Türkeiexperte am Münchner ifo Institut. Fast die Hälfte der türkischen Exporte gehen in die EU, rund ein Zehntel alleine nach Deutschland, was die Bundesrepublik zum wichtigsten Handelspartner für die Türkei macht.
Hebel des schnöden Geldes
Und es gibt noch ein Druckmittel: Die Türken wünschen sich nämlich ausdrücklich mehr zollfreien Handel. Mitte Februar war der türkische Vizepremier Mehmet Şimşek zu Besuch in Berlin, um eine Vertiefung der Zollunion auszuloten. Ifo-Experte Yalcin hat ausgerechnet, dass das türkische Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zehn Jahren um über 1,8 Prozent zusätzlich wachsen könnte, wenn der freie Handel nicht nur für die Industrie gelte, sondern auch für Agrar- und Dienstleistungen. Im besten Fall stiegen türkische Exporte in die EU um 70 Prozent.
Doch das Bundeswirtschaftsministerium mauert. „Die Zollunion leidet zunehmend unter Importbeschränkungen und Handelsbarrieren der Türkei“, teilt das Ministerium auf Anfrage mit. Die Verhandlungen gehen zwar trotz der aktuellen diplomatischen Streitigkeiten weiter. Berlin rechnet aber erst nach dem Referendum über das neue Präsidialsystem, das Amtsinhaber Erdoğan mehr Macht geben soll, mit Fortschritten.
Die vertiefte Zollunion, die die EU absegnen müsste, könnte zum entscheidenden Hebel werden, um Erdoğan unter Druck zu setzen. „Schon die Drohung, die Zollunion nicht zu vertiefen, würde die türkische Lira auf Talfahrt schicken“, sagt Yalcin.
Und dann wäre da natürlich noch der Hebel des schnöden Geldes. Im vergangenen Jahr stellte allein Deutschland 376 Millionen Euro Entwicklungsmittel für die Türkei bereit – überwiegend als Darlehen der staatlichen Förderbank KfW. Die EU hat der Türkei zwischen 2014 und 2020 insgesamt 4,5 Milliarden Euro Entwicklungshilfe versprochen, darunter 1,5 Milliarden für die Förderung von Demokratie und Menschenrechten. Hinzu kommen weitere sechs Milliarden Euro, um die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge zu versorgen, die in der Türkei leben. Deutschlands Anteil daran liegt bei einer knappen Milliarde Euro.
Natürlich könnten die Europäer auch hier kürzen, doch Ökonom Yalcin warnt: „Die Frage wäre doch, ob wir damit wirklich Erdoğan und nicht vielmehr der türkischen Bevölkerung schaden.“