Türkei-Krise Wie man Erdoğan zur Vernunft bringen kann

Die Türkei hat Deutschland mit dem Flüchtlingsdeal in der Hand, heißt es. Dabei sind beide Länder voneinander abhängig – und Berlin verfügt über effektive Druckmittel gegen Erdoğan.

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Einwandererkind, Häftling, Staatspräsident
Vom Häftling zum StaatspräsidentenRecep Tayyip Erdogan ist seit dem 28. August 2014 Staatspräsident der Türkei. Zuvor war er von 2003 bis 2014 Ministerpräsident. Seine politische Laufbahn begann im Jahr 1994, als er zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde. Im Vorfeld bekleidete er bereits mehrere Parteiämter in der „Wohlfahrtspartei“. Im Jahr 1998 wurde er wegen „Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten“ zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, allerdings bereits nach vier Monaten wieder entlassen. Im Jahr 2001 gründete er die Gerechtigkeits- und Aufschwungpartei „AKP“, mit der er im Jahr 2002 überraschend den Wahlsieg holte. Quelle: REUTERS
Familie stammt aus GeorgienErdogan wurde am 26. Februar 1954 in Istanbul als Sohn eines Seemanns geboren. Die Familie stammt ursprünglich aus Georgien und war in die Türkei eingewandert. Er hat eine Schwester und drei Brüder. Mit seiner Frau Emine ist Recep Erdogan seit 1978 verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne und zwei Töchter. Das Bild zeigt Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, seine Tochter Esra Albayrak sowie Ehefrau Emine (v. l.). Quelle: dpa
„Vater der Türken“In seiner Anfangszeit als Ministerpräsident war Erdogan noch ein Hoffnungsträger des Westens und galt als reformwilliger und moderner Politiker. Mehr und mehr zeichnete sich jedoch ein autokratischer Führungsstil ab. Erdogan inszeniert sich als eine Art „Vater der Türken“ und will das Bild eines mächtigen Staatslenkers vermitteln. Dabei macht er nicht Halt vor einem harten Durchgreifen gegen politische Gegner, freie Journalisten und Kritiker seiner Politik. Quelle: REUTERS
Zeichen der MachtDer neue Präsidentenpalast in Ankara unterstreicht die imperialistischen Züge der Politik Erdogans. Das Gebäude hat eine Grundfläche von etwa 40.000 Quadratmetern und verfügt über circa 1000 Zimmer. Die Baukosten beliefen sich auf mehr als 490 Millionen Euro. Offiziell handelt es sich bei dem Palast um einen Schwarzbau, da dieser in einem Naturschutzgebiet errichtet wurde. Mehrere Gerichte hoben die Baugenehmigung auf und ordneten einen Baustopp an. Auch das oberste Verwaltungsgericht der Türkei erklärte den Bau für rechtswidrig. Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ignorierte diese Urteile und ließ den Palast weiterbauen. Quelle: dpa
Ziemlich beste Freunde?Das Verhältnis zum russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin ist seit dem Syrien-Konflikt angespannt. Zwischen Moskau und Ankara herrschte zwischenzeitlich diplomatische Eiszeit, mittlerweile haben sich die Beziehungen wieder etwas normalisiert. In Syrien verfolgen beide jedoch verschiedene Ziele: Putin gilt als Unterstützer des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, Erdogan will das Regime in Damaskus stürzen. Die Türkei galt lange als Stabilitätsanker in der unruhigen Region des Nahen Ostens, mittlerweile bekommt dieses Bild allerdings erste Risse – nicht zuletzt durch den Putschversuch im Juli. Quelle: AP
Dubioser FlüchtlingsdealAuch das Verhältnis zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem türkischen Staatschef ist mehr als mittlerweile angespannt. Im Frühjahr 2016 einigen sich die beiden auf einen umstrittenen Deal, um die Flüchtlingskrise zu lösen: Jeder Hilfesuchende, der auf den griechischen Inseln ankommt, muss damit rechnen, wieder in die Türkei zurückgebracht zu werden. Im Gegenzug verspricht Deutschland, für jeden Syrer, der sich unter den Bootsankömmlingen befindet, einen syrischen Flüchtling direkt aus der Türkei aufzunehmen. Angela Merkel ist sich sicher: So wird das Geschäftsmodell der Schlepper zerstört und das Flüchtlingsproblem in der EU gelöst. Gleichzeitig begibt sich die Bundeskanzlerin mit dem Abkommen weiter in Erdogans Abhängigkeit, der diese geschickt zu nutzen weiß: Bereits mehrfach drohte Erdogan damit, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, sollte es beispielsweise keine Fortschritte bei den Verhandlungen zur Visafreiheit geben. Zuletzt verschlechterte sich das Verhältnis durch die Inhaftierung zweier deutscher Journalisten sowie das Verbot von Bundestagsabgeordneten Bundeswehr-Soldaten in Incirlik zu besuchen. Quelle: dpa
Gescheiterter PutschversuchIm Juli 2016 eskalierte die Lage in der Türkei: Teile des türkischen Militärs versuchten am 15. und 16. Juli, die türkische Regierung mit Präsident Erdogan und seinem AKP-Kabinett zu stürzen. Der Versuch scheiterte jedoch, nach wenigen Stunden hatte die türkische Regierung wieder die Kontrolle über das Land. Die Bilanz des gescheiterten Putschversuchs: Beinahe 300 Menschen wurden getötet und mehr als 2000 weitere verletzt. Außerdem kam es zu Massenverhaftungen und Massenentlassungen von Tausenden Staatsbürgern – besonders Soldaten, Beamte und Akademiker sowie Journalisten waren betroffen von der „Säuberungsaktion“. Quelle: dpa

Den wichtigsten Handelspartner seines Landes sieht Zekeriya Mete vom Schreibtisch aus. Der Unternehmer hat von seinem Büro in Istanbul einen guten Blick über den Bosporus – und damit auf Europa. In den Neunzigerjahren gründete Mete sein Handelsunternehmen, er importierte Lebensmittel aus dem Westen und verkaufte sie dann in der Türkei und Russland: Kaugummis, Olivenöl, Handcremes – alles, was es gab und dringend gebraucht wurde. „Damals war das ein Riesengeschäft, wir wuchsen rasant“, erinnert sich der Unternehmer.

Seit zwei Jahren jedoch laufen Metes Geschäfte schlechter, auch weil die Europäer immer weiter wegrücken, verschreckt von Terroranschlägen ebenso wie von der unberechenbaren Rhetorik von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Direktinvestitionen in der Türkei sind eingebrochen, das Handelsbilanzdefizit des Landes liegt bei etwa 62 Milliarden US-Dollar. „Wir spüren die Stagnation jeden Tag“, sagt Mete.

Wenn die ökonomische Abhängigkeit aber so stark ist, könnte mehr wirtschaftlicher Druck Erdoğan dann nicht zur Räson bringen, etwa in der hitzigen Debatte um Auftritte türkischer Politiker hierzulande? Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat damit jüngst geliebäugelt, als er jeden Spielraum für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei ausschloss, solange der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel in der Türkei in Haft sei.

Schlüsselstaat Türkei

Doch wie viel Druck wäre überhaupt möglich? Immerhin sind die EU und die Türkei über eine Zollunion eng miteinander verbunden. Doch die europäischen Verträge stünden Sanktionen nicht im Wege, und dank der kontrollierbaren Grenze wären Ausfuhrbarrieren auch kein Problem.

Sie wären sogar höchst wirksam: „Die Türkei würde Sanktionen kaum verkraften“, sagt Erdal Yalcin, Türkeiexperte am Münchner ifo Institut. Fast die Hälfte der türkischen Exporte gehen in die EU, rund ein Zehntel alleine nach Deutschland, was die Bundesrepublik zum wichtigsten Handelspartner für die Türkei macht.

Hebel des schnöden Geldes

Und es gibt noch ein Druckmittel: Die Türken wünschen sich nämlich ausdrücklich mehr zollfreien Handel. Mitte Februar war der türkische Vizepremier Mehmet Şimşek zu Besuch in Berlin, um eine Vertiefung der Zollunion auszuloten. Ifo-Experte Yalcin hat ausgerechnet, dass das türkische Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zehn Jahren um über 1,8 Prozent zusätzlich wachsen könnte, wenn der freie Handel nicht nur für die Industrie gelte, sondern auch für Agrar- und Dienstleistungen. Im besten Fall stiegen türkische Exporte in die EU um 70 Prozent.

"Annäherung an die EU immer schwieriger"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Außenminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa
Bundesjustizminister Heiko Maas Quelle: AP
FDP-Bundesvorsitzener Christian Lindner Quelle: dpa
Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu Quelle: dpa
Axel-Springer- Vorstandschef Mathias Döpfner Quelle: dpa
Menschenrechtsorganisation Amnesty International Quelle: REUTERS

Doch das Bundeswirtschaftsministerium mauert. „Die Zollunion leidet zunehmend unter Importbeschränkungen und Handelsbarrieren der Türkei“, teilt das Ministerium auf Anfrage mit. Die Verhandlungen gehen zwar trotz der aktuellen diplomatischen Streitigkeiten weiter. Berlin rechnet aber erst nach dem Referendum über das neue Präsidialsystem, das Amtsinhaber Erdoğan mehr Macht geben soll, mit Fortschritten.

Die vertiefte Zollunion, die die EU absegnen müsste, könnte zum entscheidenden Hebel werden, um Erdoğan unter Druck zu setzen. „Schon die Drohung, die Zollunion nicht zu vertiefen, würde die türkische Lira auf Talfahrt schicken“, sagt Yalcin.

Und dann wäre da natürlich noch der Hebel des schnöden Geldes. Im vergangenen Jahr stellte allein Deutschland 376 Millionen Euro Entwicklungsmittel für die Türkei bereit – überwiegend als Darlehen der staatlichen Förderbank KfW. Die EU hat der Türkei zwischen 2014 und 2020 insgesamt 4,5 Milliarden Euro Entwicklungshilfe versprochen, darunter 1,5 Milliarden für die Förderung von Demokratie und Menschenrechten. Hinzu kommen weitere sechs Milliarden Euro, um die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge zu versorgen, die in der Türkei leben. Deutschlands Anteil daran liegt bei einer knappen Milliarde Euro.

Natürlich könnten die Europäer auch hier kürzen, doch Ökonom Yalcin warnt: „Die Frage wäre doch, ob wir damit wirklich Erdoğan und nicht vielmehr der türkischen Bevölkerung schaden.“

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