Die für 2017 geplante Visafreiheit der Türkei in der Europäischen Union (EU) wird sich einem Medienbericht zufolge deutlich verschieben. Gegenüber "Bild" kritisierte der stellvertretende Präsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, die jüngsten Äußerungen von Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Todesstrafe und die neue Verhaftungswelle bei kritischen Journalisten. "So wird es auch 2017 nichts mit der Visafreiheit. Das ist dann allein die Schuld von Präsident Erdogan", sagte Graf Lambsdorff. Der EVP-Abgeordnete Herbert Reul zeigte sich ebenfalls sehr skeptisch, dass die Visafreiheit 2017 kommt. "Wenn Erdogan so weitermacht, rückt die Visafreiheit in weite Ferne", sagte Reul dem Blatt.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Nach erneuten Festnahmen und Durchsuchungen bei türkischen Medien sieht zudem Grünen-Co-Chef Cem Özdemir für die Türkei kaum noch eine Chance, unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan der EU beizutreten.
"Ein EU-Beitritt der Türkei ist derzeit nicht realistisch", sagt der Grünen-Chef im Interview mit Bloomberg TV. "Es ist nicht zu erkennen, dass sich die Türkei unter Präsident Erdogan Europa annähert." Die Diskussion über die Einführung der Todesstrafe und das Vorgehen gegen Medien und Oppositionspolitiker zeige, dass sich die Türkei von der EU entferne.
Dündar: Bundesregierung muss klares Signal an Türkei senden
Darüber hinaus hat sich der ehemalige Chefredakteur der türkischen Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, zu den jüngsten Entwicklungen in und in Bezug auf die Türkei geäußert. Er kritisierte die Reaktion der Bundesregierung auf die jüngsten Verhaftungen von Journalisten in der Türkei. „Die Reaktion der deutschen Regierung war wirklich schwach. Auch im Vergleich mit anderen westlichen Partnern der Türkei, wie etwa der Reaktion der USA“, sagte Dündar der „Welt“. „Berlin hat die Verhaftungen nicht einmal verurteilt. Besorgt sein hilft uns türkischen Journalisten nicht.“ Von den europäischen Regierung erwarte er sich ein klares Signal für die Demokratie in der Türkei. „Seit Jahren sind die Europäer dauernd besorgt. Aber das ändert nichts“, sagte Dündar, der im Exil in Deutschland lebt.
Die Behörden hatten am Montag 13 Mitarbeiter, darunter auch „Cumhuriyet“-Chefredakteur Murat Sabuncu, wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation festgenommen. Die Staatsanwaltschaft wirft der Zeitung vor, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen unterstützt zu haben. Die Redaktion wies die Vorwürfe entschieden zurück und kritisierte die Festnahmen als rechtswidrig.
Regierungssprecher Steffen Seibert hatte daraufhin in Berlin gesagt: „Die Bundesregierung hat wiederholt - und das will ich hier auch noch einmal tun - ihrer Sorge Ausdruck gegeben über das Vorgehen gegen Presse in der Türkei und gegen Journalisten in der Türkei.“ Pressefreiheit sei „zentral für jeden Rechtsstaat“.