Türkei Erdoğans groteskes Wirtschaftsdenken

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Zum ersten Mal profitierten die armen Bevölkerungsschichten

Derviş gilt als Kontrapunkt zu Erbakan. Der Architekt des türkischen Wirtschaftswunders war zuvor Vizepräsident der Weltbank. Nach einer heftigen Wirtschaftskrise um die Jahrtausendwende setzte er ein Reformprogramm des Internationalen Währungsfonds um.

Erdoğan folgte auch nach Derviş’ Abgang dieser Politik. In dessen Folge flossen Milliarden Dollar an ausländischen Investitionen ins Land. Das Wirtschaftswachstum sprang auf fünf Prozent und mehr. Wahrscheinlich zum ersten Mal in der türkischen Geschichte profitierten auch die armen Bevölkerungsschichten vom Aufschwung – und sicherten Erdoğans Wahlsiege in den ersten 15 Jahren seiner Regierungszeit.

Kein Experte mehr übrig

Seit rund drei Jahren allerdings steckt das türkische Doppelmodell in der Krise: Das Wachstum sinkt, die Lira fällt, die Inflation steigt. Die Folge: „Momentan entfernt sich Erdoğan von der westlichen Gedankenwelt“, sagt Experte Şen.

Und tatsächlich: In den besten Jahren der AKP-Regierung war Erdoğan von qualifizierten Beratern und Mitstreitern umgeben. Doch von denen ist keiner mehr übrig. Konservativ-islamisches Gedankengut gewinnt zusehends die Oberhand.

Trotzdem glaubt Şen nicht, dass Erdoğan ein Ideologe sei. Er hält es sogar nicht für ausgeschlossen, dass er an seine eigene Zinstheorie nicht glaubt: „Erdoğan ist ein Pragmatiker – er benutzt den Islam, um seine Wähler zu erreichen.“

Dafür spricht immerhin, dass Erdoğans Attacken auf die Zentralbank bislang ohne erkennbare Folgen blieben. Selbst Berater Kocaman gibt zu: Ein islamisches, zinsfreies Bankensystem funktioniere nur in der Nische. Eine ganze Volkswirtschaft lasse sich so höchstwahrscheinlich nicht organisieren.

Und bei näherer Betrachtung ist der Unterschied zwischen einer westlichen und einer islamischen Bank auch gar nicht so groß. Er besteht mehr in der Verpackung als im Inhalt.

Denn natürlich zahlt auch, wer sich mit einem islamischen Kredit ein Auto kauft, Geld an die Bank. Nach fünf Jahren gehört das Auto zwar dem Kunden, aber er hat dafür 120 000 Lira an die Bank gezahlt. Die 20 000 Lira Aufschlag, die der Kunde bezahlen muss, heißen nur nicht Zinsen, sondern Gebühren.

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