Türkische Schulen im Ausnahmezustand „Es kommt eine Generation voll Hass und Wut“

Vor Beginn des neuen Schuljahres hat die Türkei 11.000 Lehrer suspendiert, viele davon in den Kurdengebieten. Dort fürchten sich die Menschen jetzt vor einer Radikalisierung der vom Schulausfall betroffenen Jugendlichen.

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Die türkische Regierung hat rund 11.000 Lehrer suspendiert. In der kurdischen Stadt Diyarbakir kam es deswegen zu Protesten. Quelle: AFP

Diyarbakir Das Telefon klingelt ständig im Gewerkschaftsbüro von Diyarbakir. Mehmet Nuri Özdemir klemmt den Hörer zwischen Schulter und Ohr, gibt geduldig besorgten Lehrern Auskunft und winkt Kollegen zu, die nach und nach eintrudeln. Jemand verteilt gelbe Leibchen mit dem Abzeichen der türkischen Bildungsgewerkschaft „Egitim Sen“. Die rund dreißig Lehrer, die sich hier täglich versammeln, haben alle keinen Job mehr.

Sie gehören zu rund 11.000 Lehrern, die die türkische Regierung kurz vor Beginn des türkischen Schuljahrs in dieser Woche suspendiert hat. Grund ist der Vorwurf der Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Mehr als 4000 der betroffenen Lehrer arbeiteten in der kurdischen Millionenstadt Diyarbakir.

Schon zuvor hatte die islamisch-konservative AKP-Regierung Tausende Lehrer wegen mutmaßlicher Verbindung zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vom Dienst freigestellt. Die Regierung macht Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich. Kritiker werfen der AKP und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei den folgenden Entlassungen und Festnahmen Missachtung des Rechtsstaats vor.

Özdemir, der mit einer Kollegin die Zweigstelle der Gewerkschaft Diyarbakir leitet, wurde selbst suspendiert. Die Zeit nach dem Putschversuch hätte ihm zunächst neue Hoffnung gegeben, sagt er. „Alle haben zusammengehalten, egal ob Kurde, Türke oder Alevit.“ Wir dachten, jetzt könne auch wieder über eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts gesprochen werden. Aber genau das Gegenteil ist passiert. Zuerst sind sie gegen die Fethullah-Anhänger vorgegangen und danach gegen die Opposition.“

Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, äußerte sich kürzlich ähnlich. Laut der Zeitung „Hürriyet“ kritisierte er, der Ausnahmezustand sei dazu gedacht, um die Gülen-Bewegung zu bekämpfen. Die AKP nutze diese Macht jedoch auch, um gegen die Opposition vorzugehen.

Die Lehrer in Diyarbakir haben ihre Schuhe ausgezogen und hocken auf dem Teppichboden. Ihren Sitzstreik können sie nur drinnen abhalten. Auf der Straße gilt striktes Demonstrationsverbot. Vor dem Gewerkschaftsgebäude stehen gepanzerte Polizeifahrzeuge.

Baris, ein 32-jähriger Grundschullehrer, betrachtet nach seiner Zukunft gefragt nachdenklich seine Socken. „Ich weiß es nicht“, sagt er seufzend. Zwar erhielten die Lehrer bis zum Abschluss der Ermittlungen Zweidrittel ihres Gehalts. Der eigentliche Grund ihrer Suspendierung, glauben hier viele, sei jedoch die Teilnahme an einem Streik, der sich gegen die Militäroperationen im Südosten richtete. Baris glaubt daher, dass die Regierung die Lehrer früher oder später per Notstandsdekret ganz loswerden will. „Jeder hier fragt sich, wie er finanziell durchkommen soll. Ich bin seit neun Jahren Lehrer, ich habe nichts anderes gelernt. Zur Not muss ich kellnern gehen.“


„So wie es vor dreißig Jahren war, so ist es jetzt auch“

Für Özdemir ist die angebliche PKK-Unterstützung ebenfalls nur ein Vorwand. Den setze die Regierung beliebig ein. In diesem Fall, um seine Gewerkschaft mundtot zu machen. „Wir setzten uns für säkulare Bildung, muttersprachlichen Unterricht und für Frieden in der Region ein“, sagt er. Das passe der Regierung nicht.

Özdemir glaubt nicht, dass die AKP es schaffe, die suspendierten Lehrer rechtzeitig zu ersetzen, auch wenn sie das versprochen habe. Zwangsläufig werde Unterricht ausfallen. Dabei hätten die Menschen und vor allem die Kinder im Südosten schon genug unter dem Konflikt zwischen PKK und Regierung gelitten. „Wir werden dazwischen zermahlen“, sagt er.

Das Bildungsministerium in Ankara bestimmt den Einsatzort der Lehrer. Diese dürfen nur Wünsche äußern. Oft wollen nur die Lehrer aus dem Südosten in ihre Heimatregion zurück. Viele sind in den 90er-Jahren aufgewachsen, als der Konflikt zwischen Regierung und PKK einen Höhepunkt erreichte. Sie kennen den Krieg, die Bombardements der türkischen Armee, die Anschläge der PKK, die Gefechte zwischen beiden Seiten. Zahlreiche Familien wurden damals aus ihren Dörfern vertrieben.

So auch die Familie von Özdemir. Er stammt aus einem Dorf in der Nähe von Mardin, wie er erzählt. Das Haus seiner Familie sei durch Gefechte zerstört und sein Grundschullehrer getötet worden. „Ich habe vier Jahre in einem Zelt gelebt und mein Universitätsexamen in Soziologie von dort aus vorbereitet“, sagt Özdemir. Der heute 36-Jährige wurde Lehrer für Kurdisch im Wahlfach und engagierte sich bei der Gewerkschaft Egitim Sen. Sein zweijähriger Sohn und seine siebenjährige Tochter sollten es mal besser haben. Doch jetzt sieht er eine Wiederholung der Geschichte: „So wie es damals vor dreißig Jahren war, genau so ist es jetzt auch“, sagt er.

Allein in Diyarbakir wurden vier Viertel, in denen sich PKK und Sicherheitskräfte monatelang Kämpfe lieferten, abgerissen. Sechs Schulen darin sind nach Angaben von Egitim Sen zerstört, die Einwohner mussten umsiedeln. Rund 7500 Schulkinder seien davon betroffen, sagt Özdemir und niemand wisse so genau, wo die Familien jetzt wohnen und ob die Kinder überhaupt in die Schule gingen. „Die Regierung kümmert sich nicht und wenn wir es tun, bezeichnen sie uns als Terroristen“, sagt er. Hinzu käme, dass die Kinder traumatisiert seien.

Eine 48-jährige Frau, die zur Unterstützung in die Gewerkschaft gekommen ist, mischt sich ein. Sie habe sechs Kinder, sagt sie in gebrochenem Türkisch und sie wolle unbedingt etwas los werden: „Die einzigen, die diese Kinder verstehen, sind ihre Lehrer, denn sie kommen von hier und sind selbst im Krieg aufgewachsen.“

Die Menschen in der Region hätten hart gearbeitet, um die Kinder in die Schule schicken zu können. „Wenn sie keine Ausbildung haben, ist das der direkte Weg in die Berge“, sagt sie. „In die Berge gehen“ heißt, sich der PKK anschließen. „Und wenn der Staat unseren Kindern die Bildung verweigert, dann ist er es, der sie in die Berge schickt, niemand anders. Schreiben Sie das“, ereifert sich die Frau.

Auch Özedmir hat Angst vor einer Radikalisierung: „Ich glaube, dass die Konsequenz aus alldem schwerwiegend sein wird. Wir verlieren gerade eine Generation. Es kommt eine Generation voller Hass und Wut. Das ist überhaupt nicht gut.“

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