Türkische Währungskrise „Sie haben Dollars, wir haben Allah“

Jeden Tag ist die Lira weniger wert. Aktuell müssen in der Wechselstube sieben Lira für einen Euro hingeblättert werden. Quelle: dpa

Heute ist die türkische Lira nur noch etwas mehr als halb so viel wert wie Anfang des Jahres. Wie kam es dazu und wie könnte es weitergehen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

An diesem Freitag hat die türkische Lira einen vorübergehenden Tiefstand erreicht. Für einen Euro bekam man sieben türkische Lira. Anfang des Jahres waren es noch vier Lira. Die Türkei steckt in einer Finanzkrise, die sich zu einer Wirtschaftskrise auszuweiten droht. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie kam es dazu?
Kann ein Pfarrer eine Wirtschaftskrise verursachen? Zumindest hat er sie ausgelöst. Beim dramatischen Verfall der türkischen Lira spielt der amerikanische Pastor Brunson eine wichtige Rolle. Brunson sitzt seit bald zwei Jahren in einem türkischen Gefängnis (seit kurzem steht er nur noch unter Hausarrest). Vorgeworfen werden ihm sowohl Unterstützung der PKK als auch der Gülen-Bewegung. Der Vorwurf wirkt absurd – auch weil sich beide Organisationen spinnefeind sind. In den letzten Wochen aber forderte die US-Regierung immer vehementer die Freilassung des Pastors. Ankara dagegen verwies darauf, man sei schließlich ein Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz - eine Behauptung, die in letzter Zeit arg an Glaubwürdigkeit gelitten hat. Eine Eskalationsspirale kam in Gang, Washington drohte mit Sanktionen, Ankara drohte zurück. Geschehen ist bisher kaum etwas - die Vermögen zweier türkischer Minister wurden beschlagnahmt, doch die beteuern, nicht einen Cent in den USA zu haben. Doch die psychologische Wirkung ist verheerend.

Was steckt dahinter?
Der Streit um den Pastor trifft die Türkei zu denkbar schlechtesten Zeitpunkt und an verwundbarster Stelle. Da das Land seit Jahren mehr importiert (vor allem Energie aus Russland), als es exportiert, ist die Türkei auf einen stetigen Zustrom von ausländischem Kapital angewiesen. Um eine Wirtschaftskrise zu vermeiden, hatte Ankara in den beiden vergangenen Jahren mittels eines Kreditgarantiefonds viel Geld in die Wirtschaft gepumpt. Die Inflation sprang an, und die Zentralbank reagierte viel zu spät mit einer Zinserhöhung. Das chronisch hohe Leistungsbilanzdefizit erhöhte sich weiter. Zusätzlich hat sich das globale Zinsumfeld verändert. Durch die Leitzinserhöhungen in den USA fließt Geld aus Schwellenländern zurück in vermeintlich sichere Häfen wie US-Staatsanleihen. Das dringend benötigte Geld bleibt also aus. Davon sind alle Emerging-Markets betroffen, auch die Währungen von Brasilien, Argentinien, Südafrika und Vietnam verloren in den vergangenen Monaten stark an Wert. Doch nirgends waren die Verluste so dramatisch wie in der Türkei.

Welche Schuld hat die türkische Regierung?
Erdogan hätte nach der gewonnen Wahl am 22. Juni ein Zeichen setzen können. Die Märkte erwarteten ein kompetentes Wirtschaftsteam mit einem klaren Reformprogramm. Vor allem hofften viele Investoren auf Mehmet Simsek. Der gebürtige Kurde und ehemalige Merryl-Lynch-Banker galt vielen als Aushängeschild wirtschaftlichen Sachverstands. Doch als Erdogan sein neues Kabinett vorstellte, suchte man seinen Namen vergebens. Stattdessen wurde Erdogans Schwiegersohn, Berat Albayrak, neuer Finanzminister. Darüber hinaus hatte der Präsident angekündigt, künftig die türkische Zentralbank stärker kontrollieren zu wollen. Das ist insofern fatal, da Erdogan der obskuren Theorie anhängt, hohe Zinsen würde eine Inflation nicht bremsen, sondern verursachen. Die New York Times verglich das einmal mit der Aussage: Chemotherapie löst Krebs aus. All dies führte dazu, dass immer mehr Investoren skeptisch wurden, und ihre Lira-Bestände auflösten.

Was kann passieren?
Aus der Finanzkrise kann eine Wirtschaftskrise werden. Türkische Unternehmen haben hohe Fremdwährungskredite – sie stehen mit über 300 Milliarden US-Dollar in der Kreide. Weil die Zinslast in türkischer Lira steigt, bekommen diese Unternehmen Liquiditätsprobleme. Einige große Konzerne mussten bereits umschulden. Die Zahlungsmoral ist in den vergangenen Monaten stark gesunken. Besonders dramatisch ist die Lage im überhitzten Immobilien-Sektor. Dort soll es immer öfter zu Zahlungsausfällen kommen. Die türkischen Banken gelten an und für sich als relativ stabil und haben eine hohe Eigenkapitalquote. Unverwundbar aber sind sie nicht.

Was müsste getan werden?
Nötig wäre jetzt eine starke Leitzinserhöhung und vertrauensbildende Maßnahmen. Die Regierung müsste die Unabhängigkeit der Zentralbank gewährleisten, Rechtsstaatlichkeit betonen, und ihre Beziehungen zur EU und den USA verbessern (dazu dürfte auch die Freilassung des Pastors gehören). Auch eine Hilfe des IWF ist nicht mehr ausgeschlossen. Das aber wäre ein Schwäche-Eingeständnis der Regierung. Stattdessen spricht Erdogan von einem „Wirtschaftskrieg, der gegen das Land geführt“ werde.

Und im schlimmsten Fall?
Kommt es zu keiner Zinserhöhung, dürfte sich der Verfall weiter beschleunigen. Eine Möglichkeit ist, dass die Regierung Kapitalverkehrskontrollen einführt und Fremdwährungskonten, von denen es in der Türkei sehr viele gibt, vorübergehend einfriert.

Kann sich die Krise auf europäische Banken ausweiten?
Vor allem spanische Großbanken haben hohe Kredite an türkische Banken gegeben. Von 110 Milliarden Euro, mit denen die türkischen Banken verschuldet sind, sollen 83 Milliarden von spanischen Banken stammen. Konkret sind vor allem die Institute BBVA, BNP Paribas und Unicredit betroffen. Insgesamt aber ist der Einfluss der türkischen Wirtschaft auf die Euro-Zone eher gering.

Wird Erdogan jetzt geschwächt?
Wahrscheinlich nicht. Der Lira-Verfall trifft besonders die Mittelschicht. Europa- oder USA-Aufenthalte werden jetzt für viele unerschwinglich. Doch diese Leute waren ohnehin nie AKP-Wähler. Aber auch Erdogan-Anhänger spüren die Inflation: Gemüse, Benzin, Gas – tägliche Gebrauchsgüter werden teurer. Die Regierung wird voraussichtlich die anti-westliche Rhetorik nochmals verschärfen. Am Donnerstag sagte Erdogan: „Sie haben ihre Dollars, wir aber haben Allah.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%