Ukraine Europas vergessener Krieg

Trotz der Waffenruhe wird im Osten der Ukraine jeden Tag geschossen – mit Handfeuerwaffen, Mörsern und schwerer Artillerie. Viele Bewohner sind geflohen. Geblieben sind nur die, die nirgendwo anders hinkönnen.

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Die Waffenruhe im Osten der Ukraine wird jeden Tag gebrochen. Viele Bewohner bauen sich inzwischen Bunker. Quelle: dpa

Kiew „Von Granatsplittern“, sagt der 82-jährige Alexander in Majorsk, einem Vorort der Rebellenhochburg Horliwka, und zeigt auf Löcher im blauen Gartentor. „Drei oder vier Millimeter dick ist das Eisen.“ In seinem Feld klaffen mächtige Granattrichter. Der Rentner lebt allein in einem kleinen Haus und wäre froh, wenn er weg könnte. „Aber wohin nur?“ Im Fernsehen ist zu sehen, wie er die schwarze Schiebermütze über dem ergrauten Haar zurechtrückt. „Zuletzt wäre das einjährige Kalb fast von Geschossen getötet worden“, klagt er und winkt ab.

Erste Stellungen der Aufständischen liegen nur wenige hundert Meter von einem fünfstöckigen Haus entfernt. Aus dem von Granatsplittern übersäten Gebäude sind fast alle Bewohner geflohen. Übrig blieb, wer nirgendwo hinkann.

Zum Beispiel Maria. Die 80-Jährige mit gebeugtem Gang, in einem verschlissenen Mantel und mit rotem Kopftuch zeigt dem TV-Sender „Inter“ ihre Behausung. Ihr Mann sitzt mit seiner Pelzmütze in der Küche. Die Alten wärmen sich mit einer Kochplatte, doch fällt der Strom oft aus. In der Wohnung sind nur wenig mehr als Null Grad.

„Hier steht Wasser, der Notvorrat“, sagt Maria und zeigt auf gefüllte Eimer und Plastikbottiche. Ihr Sohn arbeitet bei der Eisenbahn in Horliwka, keine fünf Kilometer entfernt. Doch dazwischen ist die Front. Früher kam er wöchentlich, inzwischen ist es zu problematisch.

Der 2014 ausgebrochene Konflikt im dicht besiedelten Bergbaugebiet ist längst zu einem Stellungskrieg geworden. Einheiten der Regierung und der von Moskau unterstützten Separatisten verstoßen täglich gegen die vereinbarte Waffenruhe - mit Handfeuerwaffen, aber auch mit Mörsern und schwerer Artillerie.

Mitte Oktober weckte ein Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kremlchef Wladimir Putin in Berlin zarte Hoffnung auf Entspannung. Doch daraus ist nicht viel geworden.


Hilfstransporte kommen nicht mehr an

Alexander Hug, Vizechef der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), sortiert seine Unterlagen. Der Schweizer richtet in seinen Wochenberichten die Aufmerksamkeit auf die Lage der Zivilbevölkerung im Frontgebiet. „Viele sind alt und manchmal komplett verlassen“, erzählt er.

Hug berichtet von der 82-jährigen Nina, die im Luhansker Gebiet in Nowoalexandriwka ausharrt. „Sie lebt allein in einem durch Beschuss beschädigten Haus ohne Gas, ohne Kohle, ohne Strom, ohne fließendes Wasser.“ Humanitäre Hilfe dringt aufgrund der Gefahr nicht durch.

Krasnohoriwka kurz vor der Separatistenhochburg Donezk: Seit den Sommerkämpfen 2014 gibt es hier kein Gas, keine Fernwärme und Strom nur zeitweise. Nikolai zeigt dem TV-Sender „Ukrajina“ den Kanonenofen in seiner Wohnung. Von 100 Euro aufwärts kostet ein solcher Ofen - für die meisten unbezahlbar. Nicht einmal die Hälfte der Bewohner von Krasnohoriwka ist mit Heizgeräten ausgestattet. Die Regierung schließt im dritten Kriegsjahr eine Evakuierung nicht mehr aus.

Awdijiwka, ein anderer Vorort von Donezk: Im Industriegebiet wird seit Monaten wieder gekämpft. „Sie beginnen abends gegen halb sieben, und das geht bis früh“, sagt Sergej. In den Garten geht er schon lange nicht mehr. Zu gefährlich, wegen der Scharfschützen. „Über den Kopf - tju, tju“, ahmt er das Pfeifen der Kugeln nach.

Nachbar Nikolai hat den Keller mit einem Erdwall, einer zusätzlichen Steinschicht und Reifen zu einem Bunker ausgebaut. Im Sommer saß er mit seiner Frau nach Beschuss dort fest. „Alles war verschüttet, vier Stunden mussten wir uns rausgraben“, klagt er. Der Wind weht kalt, er stellt den Kragen der Lederjoppe hoch und wischt sich die Nase.

In Kiew appelliert OSZE-Mann Hug mit Nachdruck an das Koordinierungszentrum von russischer und ukrainischer Armee, eine dauerhafte Waffenruhe zu erreichen. Keiner dürfe zulassen, dass Tausende in Mangel und Angst leben, sagt er und hofft auf Einsicht. Es wird nicht sein letzter Appell an die Kriegsparteien sein.

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