Ukraine-Konflikt Die Kriegsgefangenen auf der Krim

Das Minsker Abkommen hatte die Sache geregelt – eigentlich. Alle Kriegsgefangenen des Ukraine-Konflikts sollten freigelassen werden. Noch immer werden auf beiden Seiten Menschen festgehalten – und als Faustpfand genutzt.

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Im Südosten der Ukraine sterben immer mehr Menschen bei Kämpfen regierungstreuer Soldaten mit prorussischen Kräften. In Slawjansk, dem Zentrum des Widerstandes gegen die Regierung in Kiew, leiden die Bürger besonders. Quelle: dpa

Kiew Drei Tage nachdem der ukrainische Soldat Oleksandr Lasarenko im Osten des Landes in Kriegsgefangenschaft geraten war, wurde das Friedensabkommen von Minsk unterzeichnet. Darin stimmten die Konfliktparteien einem Austausch jeweils aller Gefangenen zu. Seither sind eineinhalb Jahre vergangen, und Lasarenkos Frau wartet noch immer auf seine Rückkehr.

Die Umsetzung des Minsker Abkommens, das die Gefechte zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Truppen beenden sollte, ist in vielen Bereichen ins Stocken geraten. Doch der Gefangenenaustausch scheint zu den heikelsten Themen zu zählen. Amnesty International und Human Rights Watch werfen beiden Seiten vor, willkürlich Zivilisten gefangen genommen zu haben. Teilweise würden diese monatelang in Gefängnissen isoliert, deren Existenz die Behörden nicht einmal einräumten.

Beide Seiten machen weit unterschiedliche Angaben über die Zahl ihrer Gefangenen. Sie scheinen die Frage nutzen zu wollen, um vom Gegner Zugeständnisse in anderen Bereichen zu erzwingen. „Unsere Erwartungen sind von den Plänen der Politiker durchkreuzt worden“, sagt Lasarenkos Frau Natalja der Nachrichtenagentur AP. „Nach Minsk wurden die Gefangenen zu einem Instrument des politischen Schacherns, sie werden als politische Handelsware gesehen.“

Doch selbst dieses Gefühl der Frustration ist fast schon ein Fortschritt: Drei Monate lang wusste die Frau nicht einmal, ob ihr Mann noch lebte. Lasarenko wurde von einer Kosaken-Formation gefangen genommen, die nicht unter der Kontrolle der Separatisten stand. Schließlich wurden er und zwölf weitere Personen vom Komitee für Kriegsgefangene der Separatistenregierung gefunden und in eine Haftanstalt in der ostukrainischen Stadt Donezk gebracht, der Hochburg der Separatisten.

Als Lasarenko endlich seine Frau anrufen durfte, sagte er ihr, die Kosaken hätten ihn in einem fensterlosen Kellerraum festgehalten. Er konnte sich darin lediglich auf Kartoffelsäcke legen. Er und die anderen Gefangenen seien geschlagen worden. Sie hätten sich von Essensresten ernähren müssen, erzählte er ihr. „Sascha hat einfach aufgehört zu existieren“, sagt seine Frau.

Zwar ist die Zahl der Gefangenen strittig, doch ist klar, dass das Tempo der Freilassung gefangener Ukrainer sich deutlich verlangsamt hat. Seit der Unterzeichnung des Minsker Abkommens im Februar 2015 kamen insgesamt 83 Ukrainer frei, doch nur zwölf davon in diesem Jahr. Und vor dem Abkommen wurden deutlich mehr Gefangene übergeben. Juri Tandyt, ein Berater des nationalen Sicherheitsdienstes, sagte ukrainischen Medien im August, seit Beginn der Kämpfe im April 2014 seien insgesamt 3080 ukrainische Gefangene ausfindig gemacht oder von den Separatisten freigelassen worden.


„Wissen nicht, wo die Geiseln festgehalten werden“

Aktuell führt die Ukraine 112 Soldaten als Gefangene der Separatisten auf. Dies deutet darauf hin, dass Tausende vor dem Minsker Abkommen freigelassen wurden. Die Separatisten hingegen räumen weniger als die Hälfte dieser Zahl ein. Die stellvertretende ukrainische Parlamentspräsidentin Irina Geraschtschenko, die in den Verhandlungen zur Umsetzung des Abkommens eine wichtige Rolle spielt, sagt, die Separatisten sprächen von 47 Gefangenen. „Wir wissen nicht, wo die anderen Geiseln festgehalten werden“, sagt Geraschtschenko. Vertreter der Separatisten erklärten im September, sie hätten sich vorläufig mit der Ukraine darauf geeinigt, 47 Gefangene freizulassen. Im Gegenzug übergebe die Ukraine 618.

Um wen es sich bei den 618 Gefangenen handelt, ist unklar. Der militärische Sprecher der Separatisten, Eduard Bassurin, sagt der AP, die Ukraine halte 962 Menschen aus dem Osten fest. 316 seien Kämpfer, der Rest entweder politische Gefangene oder Zivilisten ohne Verbindung zu dem Konflikt. Die Ukraine wiederum erklärt, sie halte rund 500 Menschen in Verbindung mit dem Krieg fest.

Wadim Karassew, ein politischer Beobachter in der Ukraine, vermutet, dass viele der von der Ukraine festgehaltenen Personen keine Kämpfer sind. „Kiew versucht, sein Gewicht in den Verhandlungen durch die Zahl festgehaltener Separatisten zu erhöhen“, sagt er. „Einfach unzufriedene Bürger landen oft in dieser Kategorie und werden dann für den Austausch vorgeschlagen.“

„In vielen Fällen könnte der einzige Grund für die Gefangennahme sein, die Häftlinge als Druckmittel für Verhandlungen zu nutzen“, sagt Oksana Pokaltschuk, Amnesty-Direktorin für die Ukraine. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Vermittlerin im Friedensprozess, „hat keine Instrumente, den Austausch von Gefangenen zu erzwingen. Kiew und die Separatisten können sich noch nicht einmal auf die Gefangenenlisten einigen. Die OSZE kann diese Arbeit nicht für sie erledigen“, erklärt Beobachter Karassew.

Der 34-jährige Bergmann Nikolai Wakaruk sagt, er sei als Zivilist eineinhalb Jahre lang unrechtmäßig von der Ukraine festgehalten worden. Er sei bei der Durchsuchung seines Hauses in der Grenzstadt Ukrainsk mitgenommen und in der Haftanstalt des Sicherheitsdienstes in Charkiw festgehalten worden. Dort sei er wiederholt geschlagen worden, um ihn zu dem Geständnis zu bewegen, ein Separatist zu sein. „Aber sie konnten mich nicht in einen Separatisten verwandeln.“

Er glaubt, dass er gefangen genommen wurde, weil er die ukrainischen Behörden kritisierte. Laut Amnesty war Wakaruk einer von 13 Gefangenen, die im Juli nach einem Bericht der Organisation über Kriegsgefangene aus der Anstalt in Charkiw freigelassen wurden. Wakaruk sagt, als internationale Organisationen in die Haftanstalt kamen, seien er und andere Gefangene plötzlich verlegt worden. „Mir wurde klar, dass ich in der neuen Ukraine verschwinden kann, einfach, weil ich anders denke.“

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