Ukraine-Krise Irrfahrt ins Unglück

Isoliert von Ost und West, schlittert die einst so stolze Industriestadt Donezk dem wirtschaftlichen Kollaps entgegen. Die verbliebenen Einwohner stehen dennoch treu zu den Separatisten.

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Separatisten in Donezk Quelle: dpa Picture-Alliance

Irgendwann Ende Juni stürmten Kämpfer in Wanderschuhen und Uniformteilen diverser Designs in das beste Krankenhaus von Donezk – die Kalaschnikows vor den Hüften. Dmitri Prjadun hatte mit ihnen gerechnet, er blieb ruhig. Zum Glück wollten sie bloß einen Krankenwagen „borgen“. Einer der Soldaten händigte dem Finanzchef der Privatklinik ein Stück Papier aus, den „Akt über die vorübergehende Nutzung“, und Prjadun wusste sofort, den nagelneuen VW-Rettungswagen würde er nie wiedersehen. „Später haben sie uns ein zweites Auto aus der Werkstatt geklaut“, erzählt er.

Ach, was soll’s! Nun hat die Klinik eben nur noch zwei Fahrzeuge. Die Leute in Donezk, sagt der mit Galgenhumor gesegnete Klinikmanager, können sich Notarzteinsätze sowieso nicht mehr leisten. Seit Mai schon tobt der Krieg zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und der ukrainischen Armee; der im September in Minsk vereinbarte Waffenstillstand ist eine Farce.

Was ist „Neurussland“?

Prjadun ist froh, dass die Söldner des Möchtegernstaats „DNR“ nur zeitweise Gäste auf seinen blitzblanken Klinikfluren sind: „Sie haben verstanden, dass wir in Donezk die Einzigen sind, die diese Apparaturen bedienen können“, so Prjadun, dessen Ärzte zur Fußball-EM 2012 die Nationalteams behandelt hatten. Nun kommen die müffelnden und zerzausten Krieger ab und an zum Röntgen – das geht aufs Haus, versteht sich.

Die ärmeren Ukrainer flüchten nach Russland

Von der Wirtschaft ist wenig übrig geblieben im ostukrainischen Gebiet Donbass, wo einst das industrielle Herz der Ukraine schlug. In der Innenstadt von Donezk sind viele Geschäfte mit Brettern vernagelt, Bankautomaten spucken seit Monaten kein Geld mehr aus. Mehr als die Hälfte der Einwohner ist vor dem Krieg aus der Stadt geflohen. Unternehmer haben sich meist in friedliche Gebiete der Ukraine gerettet, wo ihr Rechtssystem gilt und Handel mit Europa möglich ist. Die ärmeren flüchteten ins vermeintlich sorgenfreie Russland.

Mit Unbehagen beobachtet dieser produktivere Teil der Gesellschaft, wie die Kiewer Führung und Kremlchef Wladimir Putin ohne Not einen Keil zwischen die Ostukrainer getrieben haben. Und dass wie zuletzt vergangene Woche sogar geduldige Vermittler wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an Putins Kompromisslosigkeit verzweifeln. Die ärmeren Ostukrainer vertrauen hingegen dem russischen Präsidenten – und verstecken sich im vermeintlich selig machenden Russland. Wobei die dortige Regierung die Flüchtlinge nun – wie einst Stalin – in Sibirien ansiedeln will.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine

Daheim in Donezk ist unterdessen eingetreten, was viele befürchtet hatten: Mit den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk sind zwei De-facto-Staaten entstanden, die kürzlich sogar ihre Staatspräsidenten wählen durften und hoffnungslos am Tropf Moskaus dahinsiechen. Aus ukrainischer Sicht brechen damit bis zu 17 Prozent der Wirtschaftsleistung weg, was das Land auf dem Weg nach Europa schwächen und instabil halten wird. War es etwa das, was Kremlchef Putin erreichen wollte? Das glauben viele Beobachter im Westen. Aber auch im Osten muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Betriebe in der Region größtenteils stillstehen, die Industrieproduktion um mehr als die Hälfte gegenüber dem Vorjahr gesunken ist.

Donezk hängt an Moskaus Tropf

„Es ist völlig unvorstellbar, dass die Ostukraine in absehbarer Zeit zurück unter Kiewer Kontrolle gerät“, sagt Ökonom Vasily Astrov vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Auf Jahre hinaus werde das russische Staatsbudget die Hauptquelle für den besetzten Osten der Ukraine sein – erst recht, wenn die Separatisten ihren Traum von einer weiteren Eroberung jenes Landes wahr machen, das sie als „Neu-Russland“ bezeichnen. Die Schäden wären nicht nur für die Ukraine enorm, sondern auch für die Russen: Je größer der Pseudostaat, den der Kreml durchpäppeln muss, desto mehr Geld fehlt im Putin-Reich, das unter dem niedrigen Ölpreis mehr als unter den Sanktionen leidet.

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