Als der Fremde plötzlich die Handykamera zückt, wird der Aufräum-Mob plötzlich unruhig: „Keine Fotos!“ brüllt ein junger Mann mit Narben im Gesicht. Er wirft die Schippe beiseite, zieht sich flugs eine schwarze Sturmmaske über den kahlen Schädel und eilt herbei. Wie gut, dass die Jungs keine Kalaschnikow-Gewehre mehr tragen,man könnte vor ihm Angst bekommen. Aber seit Stahlarbeiter die Separatisten ihrer Stadt im Auge behalten, ist die Waffenschau vorbei. Jene fotoscheue Jüngling verweist denn auch nur an einen anderen Glatzkopf, in purpurnem T-Shirt. Er sei „der Älteste“ und könne sagen, was überhaupt vorgeht.
Tatsächlich sind es Separatisten, die an diesem Freitagvormittag im ostukrainischen Mariupol die Schäden der Randale vom 9. Mai beseitigen. Das bestätigt ihr Anführer, der sich als Sergej vorstellt und einigen der gut drei Dutzend jungen Leuten im Park vor einem ausgebrannten Amtsgebäude Nudelsuppe austeilt. Seine Brigade sei dabei, das Gebäude zu entkernen und den Schrott zu einem Verwerter zu bringen. „Dafür bekommen wir Suppe von der Stadtverwaltung. Die Jungs haben ja nichts zu essen.“ In zwei Tagen, verspricht Sergej, sei wieder Ordnung in Mariupol. Aber danach werde man sich überlegen, wie der „Widerstand“ gegen Kiew weitergehen könnte. Niemals werde er vergessen, dass im Kugelhagel der ukrainischen Sicherheitskräfte zwei seiner Freunde umgekommen seien. Bei Zusammenstößen von pro-russischen Separatisten wie Sergej und Polizeikräften waren eine Woche zuvor mehr als 20 Menschen umgekommen.
Freiwillig räumen die Separatisten die Stadt allerdings nicht auf. Sie stehen unter der Aufsicht von mindestens ebenso vielen Arbeitern aus dem Iljitsch-Stahlwerk, erkennbar an ihrer grauen Kluft mit der Aufschrift „Metinvest“. Das ist der Name der wichtigsten Firmengruppe im Imperium des Oligarchen Rinat Achmetow. Der reichste Mann der Ukraine, der ungekrönte König der hiesigen Industrieregion Donbass, hatte am Vorabend Farbe bekannt: In einer Fernsehansprache, die in der druckfrischen Mitarbeiterzeitschrift am Freitag nachzulesen ist, sprach er sich erstmals gegenüber seinen Arbeitern für die Zugehörigkeit der Region Donezk zur Ukraine aus – und somit gegen die Unabhängigkeit einer „Volksrepublik Donezk“ oder deren Anschluss an Russland. Wörtlich sagte Achmetow: „Ich glaube, dass der Donbass nur in einer vereinten Ukraine glücklich sein kann.“
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Noch in der Nacht tauchten in den Straßen von Mariupol erste Werkspatrouillen auf. Meist vier unbewaffnete Arbeiter aus Freischichten gehen mit jeweils zwei bewaffneten Polizisten des ukrainischen Sicherheitsapparats auf Streife in ihren Straßenzügen, und zwar in Werkskleidung. Wichtig ist die symbolische Wirkung, dass die Arbeiter vom Separatismus distanzieren, auch wenn sie Russisch sprechen und nichts von der Maidan-Bewegung in Kiew wissen wollen. In Mariupol arbeiten im größten Achmetow-Stahlwerk namens Iljitsch rund 30000 Menschen – und fast noch einmal so viele bei Asow-Stahl, der zweiten Megafabrik in der Industriemetropole am Schwarzen Meer. Sie alle wollen ihre Ruhe, keiner will seinen Arbeitsplatz verlieren.
Zuvor hatte Rinat Achmetow lange Zeit gepokert: Zwar sprach er sich in Pressemitteilungen für die territoriale Integrität der Ukraine aus, kreuzte dann aber des Nachts bei Separatisten in besetzten Gebäuden auf. Klare Positionierung gegenüber den Arbeitern, die ihm als Garant für Lohn und Brot vertrauen? Fehlanzeige! Beobachter vermuten, dass der Oligarch hinter den Kulissen mit Kiew über wirtschaftliche Vorteile verhandelt hat, etwa horrende Steuervergünstigungen. Wobei er auch regelmäßig in Moskau gesichtet wurde, wohl um etwaige Vorteile für sich und seine Unternehmen im Verbund der Russischen Föderation zu sondieren.
Am Ende muss die Lage eindeutig gewesen sein: Je länger das Chaos in der Ostukraine anhält, desto mehr Aufträge brechen seinen Unternehmen weg. Investitionen liegen völlig brach, und die Versorgung mit Rohmetall gerät wegen des teilweise blockierten Straßenverkehrs in Gefahr. Achmetows Kohlegruben-Betreiber DTEK zahlt Kiew keine Subventionen mehr aus; dort war es bereits zu Streiks aus ökonomischen Gründen gekommen. Langsam, aber sicher läuft der Donbass ins Messer – was letztlich auch Rinat Achmetows Macht, seinen Nimbus als Versorger der Region gefährden könnte. Also lenkte er ein. Vielleicht gerade noch rechtzeitig. Hoffentlich.