Hoffnung für die Ukraine? Es ist schwer, diese zwei Wörter in einem Atemzug zu verwenden, wenn man die aktuellen Berichte von der Front in der umkämpften Donbassregion liest: Dort kämpfen immer noch ukrainische Soldaten gegen prorussische Rebellen. Am Donnerstag starben mindestens fünf Menschen. Von einem Waffenstillstand kann keine Rede sein, allein seit der Unterzeichnung des zweiten Minsker Friedensabkommens im Februar sind mehr als 1150 Menschen gestorben, insgesamt hat der Krieg im Donbass schon mehr als 6800 Opfer gefordert.
Und doch hegt niemand geringeres als Christine Lagarde Hoffnung für die Ukraine. Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) sagte am Mittwoch, sie erwarte, dass am heutigen Freitag das Exekutivdirektorium des IWF die bisherigen Reformanstrengungen der Regierung unterstützen werde. Im Klartext: Madame Lagarde möchte, dass der Ukraine weitere Kredite ausgezahlt werden.
Das denken die Deutschen in Bezug auf die Ukraine über...
19 Prozent der Deutschen befürworten Waffenlieferungen an die Ukraine. Das ist der absolute Tiefstwert aller Befragten. Die höchste Befürworter-Quote verzeichnet Polen. Hier sind es 50 Prozent der Bürger.
Nur jeder dritte Deutsche ist dafür, dass die Ukraine der Nato beitritt. In Kanada und Amerika sind es jeweils mehr als zwei Drittel.
Für 41 Prozent der Deutschen ist ein EU-Beitritt der Ukraine wünschenswert. Nach Italien (37 Prozent) ist das der Tiefstwert.
71 Prozent sprechen sich für finanzielle Hilfe aus. Das ist ein Prozent mehr als der Nato-Schnitt.
Im Februar hat der Internationale Währungsfonds beschlossen, die Ukraine mit 17,5 Milliarden Dollar zu refinanzieren. Bisher flossen fünf Milliarden, heute soll die nächste Tranche von 1,7 Milliarden Dollar beschlossen werden. Und die braucht das Land am schwarzen Meer dringend, denn es steht kurz vor der Staatspleite. Die Ukraine hat rund 72 Milliarden Dollar Schulden. Das ist fast doppelt so viel wie noch vor einem Jahr. Aus eigener Kraft kann die Regierung die fälligen Kredite und die Zinsen für Staatsanleihen nicht bedienen, denn die Wirtschaft steckt in einer tiefen Rezession.
Schon im vergangenen Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt nach Angaben der Weltbank um 8,2 Prozent gesunken. Für dieses Jahr geht der Internationale Währungsfonds davon aus, dass die ukrainische Wirtschaft noch einmal um neun Prozent schrumpfen wird. „Die Entwicklung der Wirtschaft in der Ukraine gibt Anlass zu großer Sorge“, sagt Eckhard Cordes, Chef des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Für einige Industrien kann der Niedergang aber auch ein Aufbruch sein.
Aufgrund der ökonomischen Krise sind die Löhne im Land stark gesunken. Mittlerweile verdient ein Ukrainer durchschnittlich weniger als 200 Euro im Monat. In Rumänien ist das Lohnniveau dreimal so hoch, im Nachbarland Polen bekommen die Menschen sogar sechsmal mehr für ihre Arbeit. „Wir reden also von einem südostasiatischen Lohnniveau, direkt an der EU-Grenze – und bei westlich ausgebildeten Arbeitern“, sagt ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Kiew.
Davon profitieren vor allem leichte, arbeitsintensive Wirtschaftsbereiche, die in den letzten Jahren stark gewachsen sind: etwa die Herstellung von Möbeln, die Produktion von Nahrungsmitteln oder Kautschuk.
Ein Strukturwandel zeichnet sich ab
Im Gegensatz dazu ist die Produktion von Schwermetall und Maschinenbau eingeknickt, vor allem in dem Konfliktgebiet um Donezk und Lugansk. Langsam, aber sicher zeichnet sich ein Strukturwandel in der ukrainischen Wirtschaft ab, sowohl geographisch, als auch industriell: weg von der Schwerindustrie im Osten, hin zur Leichtindustrie in der Mitte und im Westen. Ein Grund dafür liegt auch in der verschiedenen Industriekultur. Im Westen und im Zentrum der Ukraine besteht die Industrie eher aus kleineren Unternehmen mit geringerem Einfluss von Oligarchen und stärkerem Engagement von ausländischen Investoren.
Von deutschen Unternehmen beteiligen sich vor allem Automobilzulieferer an dem neuen Wirtschaftsmodell der Ukraine. Im Westen wurden in den letzten Jahren rund 20.000 Arbeitsplätze durch deutsche Mittelständler geschaffen, schätzt Alexander Markus. Er ist Delegierter der Deutschen Wirtschaft in der Ukraine.
Allein der Kabelhersteller Leoni aus Nürnberg beschäftigt in seinem Werk mehr als 6000 Mitarbeiter. Bei allem politischen Risiko profitieren die deutschen Firmen mit ihren Exporten aus der Ukraine derzeit von dem niedrigen Wechselkurs: Die ukrainische Griwna liegt immer noch ein Drittel unter ihrem Vorjahreskurs im Vergleich zum Euro.
Spürbare wirtschaftliche Verbesserungen erwartet die Mehrheit der deutschen Unternehmer zwar erst in den kommenden beiden Jahren, aber Kromberg & Schubert, Bordnetzspezialist aus Renningen bei Stuttgart, erweitert schon jetzt sein Engagement in der Ukraine und baut derzeit ein neues Werk in Schytomyr, westlich von Kiew.
Alexander Markus weiß, dass die neuen Industriezweige den Einbruch der alten Industrie noch nicht wettmachen können. Aber neulich hat er den Wandel selbst gespürt: Ende Juni organisierte die deutsche Wirtschaftsdelegation eine Info-Veranstaltung für ukrainische Unternehmer. Das Thema: Markteintritt nach Deutschland und in die EU. „Es kamen fast 200 Leute, das hat unsere Erwartungen total übertroffen“, sagt Markus.
Bei allen negativen Entwicklungen im Hinblick auf die Gefechte in der Ostukraine muss man sehen, dass der größte Teil des Landes nicht direkt von der Situation betroffen ist. Außerdem zeigt der Willen des IWF, weitere Kredite zu geben, dass die Regierung schon einige Reformen umgesetzt hat. „Die wirtschaftliche Lage hat sich zuletzt stabilisiert, der Tiefpunkt ist überschritten“, sagt Robert Kirchner. Er arbeitet für die Deutsche Beratergruppe Ukraine. Das Analystenkollektiv berät seit 1994 die ukrainische Regierung bei wirtschaftlichen Reformen. Seit 2006 steht das Beratungsunternehmen Berlin Economics hinter dem Think Tank, der vom Wirtschaftsministerium finanziert wird.
Schwerer Kampf gegen Korruption
Kirchner begrüßt vor allem drei Reformen, welche die Regierung um Präsident Petro Poroschenko umgesetzt hat: Da sei zunächst einmal die Verbesserung des Investitionsklimas durch den Abbau von Bürokratie und der Kampf gegen die Korruption. Allerdings werde sich letzteres Problem nicht allzu schnell lösen, sagt Kirchner. Doch die neu gegründete Anti-Korruptionsbehörde und die elektronisch zugänglichen öffentlichen Beschaffungsaufträge sei ein erster Schritt.
Außerdem hat die Ukraine den Energiepreis stark angehoben. Ein Grund dafür sind die Bedingungen, an die der Internationale Währungsfonds seine Kreditvergabe gekoppelt hat. Die Ukraine muss den Gaspreis in den kommenden Jahren so lange erhöhen, bis er die Kosten für den Import komplett abdeckt. Das bedeutet für 2015 eine Preissteigerung von 280 Prozent. Damit ist eine gesamte Kostendeckung noch lange nicht erreicht, denn im vergangenen Jahr zahlten die ukrainischen Verbraucher gerade einmal ein Zehntel der Kosten für das aus Russland importierte Gas. Die Regierung will nun mit Sozialleistungen verhindern, dass sich die Armen in der Bevölkerung keine warme Wohnung leisten können, wenn der Winter kommt.
Wenn es um Gas ging, war die Ukraine in der Vergangenheit immer stark abhängig von ihrem östlichen Nachbarn Russland. Doch nun entfernt sich die ukrainische Wirtschaft immer mehr von ihrem einst so wichtigen Handelspartner. Seit diesem Jahr ist nicht mehr Russland der wichtigste Erdgaslieferant, sondern die Europäische Union. 2013 bezog die Ukraine noch 91 Prozent ihres Gases aus Russland. Im ersten Quartal dieses Jahres war es nicht einmal mehr ein Viertel.
Die EU hat sich die ehemaligen russischen Anteile gesichert, indem es Gas erst aus Russland importiert und dann über Länder wie die Slowakei oder Polen in die Ukraine schickt. Auch beim Öl zeigt sich diese Dynamik, wenn auch weniger heftig: Dieses Jahr hat die Ukraine nur noch rund 16 Prozent ihres Öls aus Russland eingeführt, vor zwei Jahren war der Anteil fast doppelt so hoch. Mittlerweile kommt mehr Öl aus Weißrussland.
Zwar ist der große Nachbar im Osten für die Ukraine mit elf Prozent Exportanteil grundsätzlich für den Handel immer noch wichtig; allerdings gingen vor vier Jahren noch fast ein Drittel der ukrainischen Waren nach Russland. Die Hälfte der ukrainischen Exportgüter für Russland kommen aus den Bereichen Maschinenbau und Schwermetall. Diese Industrie hat ihre Heimat im Osten der Ukraine, der an der Grenze zu Russland liegt – und von pro-russichen Rebellen kontrolliert wird.
Die Region ist immer noch ein Schlachtfeld, auf dem nicht nur Menschenleben, sondern auch viele Werke zerstört werden. In den von Kämpfen betroffenen Regionen Donezk und Lugansk gingen die Produktion in der Industrie, im Bergbau, in der Landwirtschaft und im Baugewerbe sowie die Handelsumsätze noch kräftiger als im Rest der Ukraine zurück. Die Industrieproduktion in diesen Regionen droht zusammenzubrechen. Die Region Donezk produzierte 2014 rund 31 Prozent weniger als im Vorjahr. In Lugansk sank die Industrieproduktion gegenüber 2013 sogar um 42 Prozent.
Ökonomisch ist die Ukraine für Russland unwichtig
An diesem wirtschaftlichen Niedergang ist neben dem Krieg auch die Schwäche der russischen Wirtschaft Schuld. Der große Nachbar steckt ebenfalls in einer Rezession und momentan ist keine schnelle Besserung in Sicht. Denn der Preis für Öl, Russlands wichtigstes Exportgut, ist in den vergangenen Monaten wieder stark gefallen – jüngst wegen der Öffnung des iranischen Marktes. „Der russische Markt hat für die Ukraine massiv an Bedeutung verloren“, sagt Robert Kirchner von der Deutschen Beratergruppe.
Der Krieg in der Ukraine hat also dazu geführt, dass sich das Land dem Westen zuwendet. Was deutsche Offizielle in Kiew nur hinter vorgehaltener sagen wollen, ist längst sichtbar: Putins Politik hat dazu geführt, dass sich die Ukraine der EU annähert. Was bedeutet das für Russland? Wirtschaftlich gesehen wenig bis gar nichts.
Für Russland ist die Ukraine ökonomisch betrachtet unwichtig, gerade einmal zweieinhalb Prozent der russischen Exporte gingen im vergangenen Jahr in die Ukraine. Geopolitisch und kulturhistorisch sieht es natürlich anders aus, die beiden Länder haben ein gemeinsames Erbe und Russland will sein Einflussgebiet nicht an den Westen verlieren.
Die Frage ist nur, ob dieser Wille die Kräfte des Marktes aufhalten kann. Denn möglicherweise wiederholt sich in der Ukraine die gleiche Geschichte wie in Georgien 2006: Damals spitzte sich die Situation zwischen Russland und Georgien zu, der Handel zwischen Georgien und Russland brach ein. Seitdem hat sich die georgische Wirtschaft dem Westen zugewendet und sich prächtig entwickelt. Die georgische Regierung plant, in die EU einzutreten.