Umgang mit dem Terror Was Deutschland von Frankreichs Leid lernen kann

Geschichte wiederholt sich, auch die des Terrors. Was Deutschland nach dem Anschlag von Berlin durchmacht, hat Frankreich schon erlebt – und daraus Konsequenzen gezogen. Gesetze und Soldaten sind nicht die besten Mittel.

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Der Anschlag von Nizza könnte dem Attentäter von Berlin als Vorbild gedient haben. Von den Reaktionen der Franzosen kann Deutschland lernen. Quelle: dpa

Paris Wer die Anschläge dieses und des vergangenen Jahres in Frankreich erlebt hat, der hat bei den Debatten nach der Attacke in Berlin ein déjà-vu-Erlebnis. Deutschland wusste, dass es bedroht ist und hatte die Angriffe in Frankreich miterlebt. Doch die Betroffenheit ist jetzt ganz anders. Doch wir Deutsche sind nicht die ersten, die mit den vielen Fragen konfrontiert sind, die sich jetzt stellen: Wie soll man reagieren, kann man sich besser schützen, ohne die eigene Lebensweise preiszugeben? Hat die Regierung versagt? Sind die Muslime schuld? Sie Flüchtlinge? Ist der Islam eine Gefahr?

Das Feld der Fragen ist riesig. Es reicht von harten Themen – wie der Polizeiarbeit – bis zu weichen – wie denen, wie man besser auf gefährdete Jugendliche einwirken kann. Dabei ist es wichtig, voneinander zu lernen. Nicht alles ist übertragbar, aber manche Fehler die in Frankreich gemacht wurden, können wir vermeiden und sinnvolle Initiativen möglicherweise übernehmen.

Zu den Dingen, die wenig bis nichts bringen, zählen martialische Reaktionen der Behörden. Die französische Regierung hat nach dem Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo tausende Soldaten zusätzlich auf die Straßen geschickt, die zu Fuß oder in Geländewagen patrouillieren. Mehr Sicherheit bringt das nicht, manchmal werden die Soldaten sogar selber zu Zielen: Im Geschäftsviertel La Défense griff ein Terrorist einen Soldaten mit einem Cutter an und verletzte ihn schwer. Der Täter konnte fliehen.

Beim Anschlag auf den Musikclub Bataclan im November 2015 waren rasch Soldaten zur Stelle. Eingegriffen haben sie nicht: Sie hatten keinen Befehl. Die nur leicht bewaffneten Polizisten bettelten um die automatischen Gewehre der Fallschirmjäger, doch die rückten sie nicht raus: Das war in den Einsatzregeln nicht vorgesehen.

Man fragt sich auch, welchen sinnvollen Beitrag die Kriegsrhetorik leistet, die Staatpräsident François Hollande und ein Premier Manuel Valls gleich ausgegeben haben. Terroristen in Westeuropa sind kein militärischer Gegner. Man sollte ihnen diesen Status nicht leichtfertig zuerkennen und sie damit aufwerten. Es geht um Polizeiarbeit, Bürgerkriegszustände wie in Syrien gibt es in Europa nicht. Die Politiker der Großen Koalition, die nun ebenfalls von Krieg reden, sollten diese Wörter gleich wieder vergessen.

Seit einem Jahr gilt in Frankreich der Ausnahmezustand. Er ermöglicht Razzien auch während der Nacht, Versammlungsverbote und Hausarreste. Die wurden auch gegen Öko-Aktivisten verhängt, die mit Dschihadismus nichts zu tun haben. Der Ausnahmezustand hat nicht verhindert, dass es vor sechs Monaten in Nizza zu einem der schlimmsten Attentate kam. Es gibt zahlreiche Fahndungserfolge, aber die haben wenig damit zu tun, dass die Polizei nun auch in der Nacht Türen eintreten darf.

Sinnlos bis gefährlich ist es, verurteilte Terroristen oder ihre Helfer zusammen in speziellen Strafanstalten unterzubringen. In Frankreich hat man erlebt, dass Täter wie die Kouachi-Brüder, die das Blutbad bei Charlie Hebdo anrichteten, oder Amédy Coulibaly, der Menschen in einem jüdischen Supermarkt ermordete, sich im Gefängnis unter dem Einfluss von Terror-Paten von Kleinkriminellen zu dschihadistischen Mordmaschinen entwickelt haben.


Das Problem der Religion

Völlig kontraproduktiv war auch die Initiative für eine Verfassungsänderung, um Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische leichter entziehen zu können. Das war der klassische Fall, in dem der echte Anti-Terrorkampf hinter politisches Kalkül zurücktrat. Hollande wollte die Rechte ausbremsen, indem er eine ihrer Forderungen übernahm. Im Endeffekt hat er die Verfassungsänderung nicht erreicht und das Land nur über Monate in eine fruchtlose Debatte getrieben.

Damit ist man bei einer wichtigen Seite des Kampfs gegen den Terror, der richtigen politischen Reaktion. Sie ist vielleicht die schwerste Aufgabe: Wo läuft der richtige Weg, der Naivität ebenso vermeidet wie kontraproduktive Überreaktionen? Wenn die Täter sich zum Islam bekennen, muss man dann nicht die Muslime stärker in die Pflicht nehmen?

In Frankreich ist die Diskussion noch nicht ausgestanden. Derzeit kann man sagen: Es gibt eine politische Mehrheit für die folgende Analyse. Die Täter sind überwiegend gescheiterte Existenzen, teilweise Psychopathen. Ihre Hintermänner nicht. Sie haben kein militärisches, sondern ein politisches Ziel: Die liberale Demokratie zu erschüttern und in einen Bürgerkrieg zu treiben. Aus einer offenen Gesellschaft gleichberechtigter Bürger soll ein gescheiterter Staat werden, in dem sich verängstigte Menschen nur noch über ihre Religion definieren und sich misstrauisch und hasserfüllt gegenüberstehen.

Freiheit, Gleichberechtigung, Integration, Akkulturation, Werte und Menschenrechte, die über jedem religiösen Bekenntnis stehen, sind die wichtigsten Gegner auf ihrem Weg. Parteien wie die Front National oder in Deutschland die AfD, die verbal auf Muslime und Migranten einschlagen, sind für die Terroristen nützliche Idioten. Denn sie tragen dazu bei, einen Keil in die Bevölkerung zu treiben und den Mythos zu nähren, dass westliche Demokratien den Muslimen keine Perspektive böten. Notwendig ist es aber, die muslimischen Gemeinschaften – Uniformität gibt es nicht – stärker einzubinden. In Frankreich waren sie anfangs sehr still, inzwischen sind sie aktiver Teil der politischen Front gegen Dschihadisten geworden. Der Dialog zwischen den Religionen ist flüssiger geworden, seitdem auf jede pauschale Kritik am Islam verzichtet wird.

Gleichzeitig stärken sich die „Immunkräfte“ innerhalb der Muslime: Moderne, vollständig mit Frankreich verbundene Imame, die einen auf die Höhe der Zeit gebrachten Islam wollen, gewinnen an Einfluss. Sie arbeiten dafür, dass Muslime sich nicht aus der französischen Gesellschaft zurückziehen, sondern deren selbstbewusster Teil sind – mit einem Glauben, der wieder als spirituelle, private Angelegenheit verstanden wird und nicht als politisches Projekt. „Manche Imame wollen einen Islam, der die Muslime zwingt, sich zwischen ihrem Glauben und der französischen Gesellschaft zu entscheiden, das hat nichts mit dem Koran zu tun und ist politisch gefährlich“, stellt Tarek Oubrou fest, Rektor der Moschee von Bordeaux.

Prediger aus Algierien und Marokko, die teilweise nicht einmal richtig Französisch sprechen, werden zurückgedrängt. Der Einfluss von Saudi-Arabien und Katar, die einen Steinzeit-Islam begünstigen, soll ebenfalls verringert werden – eine komplexe Aufgabe, denn gleichzeitig umwirbt Frankreich die Petromonarchien, genau wie Deutschland. Gleichzeitig hat Frankreich darauf reagiert, dass Dschihadisten sich nicht mehr in Moscheen radikalisieren, sondern über das Internet.

Wir dürfen uns nicht im Gegner irren. Unser Feind sind nicht die hunderttausende Flüchtlinge, die vor dem Terror im Irak oder in Syrien geflohen sind. Von ihnen geht nicht die Gefahr aus, wie schon die simple Tatsache zeigt, dass Frankreich nur einen winzigen Bruchteil dieser Migranten aufgenommen hat, in unserem Nachbarland aber die schlimmsten Anschläge in Westeuropa verübt wurden.


Die Helfer der Terroristen

Was wirkt, auch das kann man in Frankreich erleben, sind manchmal ganz praktische Schritte zur Sicherheit. Der Satz: „Es gibt keinen umfassenden Schutz“ ist so richtig wie banal. Terror wirkt in den Köpfen, und nicht allein über die Zahl der Toten und Verletzten. Die Opfer sollen einen Horrorfilm in unseren Köpfen auslösen. Dafür ist eine spezielle Inszenierung notwendig.

Ein Anschlag auf einem Weihnachtsmarkt, in einem Fußballstadion, bei einem Konzert, in einer Kirche hat diese spezielle psychologische Wirkung, die Dschihadisten suchen. Deshalb müssen solche Veranstaltungen besonders geschützt werden. Die Mörderbanden haben uns den Gefallen getan, schon vor Jahren ihre bevorzugten Ziele und Methoden in Anleitungen dazustellen. Darauf können wir reagieren. Nizza hat gezeigt: Ein schwerer, mit Sand beladener Kipper hätte gereicht, um die Zufahrt zur Promenade zu sperren. Auf dem Breitscheidplatz hätten ein paar Betonblöcke den Sattelschlepper aufgehalten.

Sicherheitsvorkehrungen in Pariser Kaufhäusern, Ministerien, Fußgängerzonen sind wesentlich schärfer als in deutschen. Das ändert unser tägliches Leben, aber es nimmt uns nicht die Freiheit, wenn wie in Paris der Zugang zu den Fußgängerzonen an der Seine durch Polizeiautos versperrt wird oder man an einem Kaufhauseingang Mantel und Tasche öffnen muss.

Den Dschihadisten ihren Ruhm nehmen, das ist ein weiterer der kleinen, aber sinnvollen Schritte. Viele französische Medien zeigen nicht mehr die Fotos der Täter. Ungewollt haben wir uns zu Propagandisten des Schreckens gemacht, weil wir seine Vollstrecker in einer Endlosschleife darstellen. Den Gefallen sollten wir ihnen nicht mehr tun.

In weiterem Sinn zählt dazu auch, die Folgen der Taten nicht zu überhöhen und damit unbewusst die Wirksamkeit des Grauens zu verstärken. Jeder, der bei einem Anschlag stirbt, ist eine Katastrophe für die Angehörigen. Doch die Dschihadisten schaffen es nicht, Anschläge zu begehen, die tatsächlich unser öffentliches Leben lahmlegen oder unsere verfassungsmäßige Ordnung in Gefahr bringen. Wollte man nach 12 Toten in Berlin behaupten, es gebe in Deutschland keine innere Sicherheit mehr, wäre das eine maßlose Übertreibung. Zahlreiche Attentate sind verhindert worden.

Noch mehr hätten vermieden werden können, wenn die Geheimdienste endlich besser kooperieren würden. Manche Dschihadisten nutzen die Flüchtlingsströme, um nach Europa zu gelangen. Das ist nicht die Schuld der Flüchtlinge, sondern der nationalen Behörden, die auf ihren Informationen sitzen bleiben. Wichtige Dschihadisten brauchen keinen Flüchtlingstreck: Abdelhamid Abaaoud, der Planer der Anschläge von Paris, flog mehrfach unerkannt zwischen Belgien und Syrien hin und her, weil die Kooperation der Dienste und Polizeibehörden nicht funktioniert hat. Immer wieder bleiben wichtige Hinweise im Nirwana der nationalen Eifersüchteleien und der mangelnden Zusammenarbeit hängen.

Sinnvoll und wirksam ist ebenfalls ein „Grünes Telefon“, das die französischen Behörden einrichtet haben. Angehörige können darüber mitteilen, wenn ein Familienmitglied beginnt, sich zurückzuziehen, sich zu radikalisieren. Darüber hat man wichtige Erkenntnisse gewonnen, wer ansprechbar ist für die Botschaften der Anwerber, mit welchen Techniken diese arbeiten und auf wen man achten muss. Ausreisen nach Syrien konnten verhindert werden, Zellen in Frankreich wurden gesprengt, Jugendliche vor dem Abdriften in den Terror bewahrt. Diese Art der frühzeitigen Einflussnahme hilft mehr als schärfere Urteile gegen Täter.

Die Medien müssen ebenfalls an sich arbeiten. Frankreichs Nachrichtensender sind wesentlich schneller und schlagkräftiger als die deutschen, von unseren behäbigen öffentlich-rechtlichen gar nicht zu reden. Unsere Medien werden aber bald nachziehen, darüber sollte man sich keine Illusionen machen. Die Kehrseite ist, dass Sender wie BFM-TV sehr nah am Geschehen waren und bei Geiselnahmen Informationen preisgaben, die den Tätern nützliche Hinweise lieferten. Im Dialog zwischen Sicherheitskräften und Medien werden solche Exzesse abgebaut.

„Wir werden viele Jahre mit dem Terrorismus konfrontiert sein“, hat Valls die Franzosen 2015 gesagt. Er hat sie auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt. Die offene Gesellschaft wird sie gewinnen, weil sie die attraktivste Form des Zusammenlebens ist. Doch sie wird nicht nur herausgefordert von den Dschihadisten, sondern auch von den Propagandisten mit den einfachen Antworten, die den Hintermännern in die Hände spielen.

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