UNO Sorge vor neuer Gewalteskalation in Syrien

Die Genfer Friedensgespräche für Syrien stecken in der Sackgasse, die vereinbarte Feuerpause scheint nur noch Makulatur zu sein: Im Brennpunkt steht vor allem Aleppo. Experten befürchten eine neue Dimension der Gewalt.

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Syrien: Sorge vor neuer Gewalteskalation in Syrien Quelle: dpa

Zwei Monate verschaffte eine Feuerpause Syrien eine kleine Verschnaufpause, doch droht die Gewalt nun mit umso größerer Wucht zurückzukehren. Aktivisten melden wieder heftige Kämpfe, Tote und eine Mobilmachung der Regierungstruppen, vor allem rund um Aleppo im Norden des Landes. Die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung ist in weite Ferne gerückt: Die Friedensgespräche in Genf sind erlahmt, UN-Vermittler Staffan de Mistura bat die USA und Russland zuletzt inständig um Hilfe bei der Wiederbelebung der Verhandlungen.

Längst scheinen in dem Bürgerkriegsland aber wieder die Waffen zu regieren. Allein vergangene Woche sollen rund 200 Zivilisten ihr Leben verloren haben, fast die Hälfte in Aleppo und Umgebung. Am Donnerstag berichteten der Opposition nahestehende Aktivisten von einer Serie von Luftangriffen auf ein Krankenhaus in der einst blühenden Wirtschaftsmetropole, denen mindestens 20 Menschen zum Opfer gefallen seien.

Zudem gab es Berichte über Bombardements in Damaskus und eine Explosion einer Autobombe - beides eigentlich Raritäten in der Hauptstadt. „In den vergangenen 48 Stunden ist durchschnittlich alle 25 Minuten ein Syrer getötet und alle 13 Minuten ein Syrer verletzt worden“, klagte de Mistura am Mittwochabend.

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Im Mittelpunkt der nächsten Phase des Krieges dürfte nach wie vor Aleppo stehen. Die Konfliktparteien bereiteten sich nun auf eine Großschlacht um die Stadt vor, meldeten führende Aufständische und oppositionelle Aktivisten der Nachrichtenagentur AP. Dschamil Saleh, Kopf der Rebellensplittergruppe Tadschammu Alessah, weiß davon zu berichten, dass die syrischen Regierungstruppen ihre Soldaten mobilisierten, Ausrüstung und Munition für eine militärische einsatzbereit machten. Seine vornehmlich in Hama und Latakia aktive Gruppe habe daher Kämpfer nach Aleppo geschickt, um den Rebellen dort bei der Abwehr der Offensive zu helfen, sagte er. Aktivisten bestätigen, dass sich rund um Aleppo etwas zusammenzubrauen scheint. Sie hätten erst kürzlich eine umfangreiche Verlegung von Einheiten der syrischen Armee und mit ihr verbündeter Milizen vom zentralen Palmyra in die Umgebung Aleppos beobachtet. Ein am Rande Aleppos lebender Aktivist, Naseer al-Chatib berichtet, der Stadt würde durch die Gefechte förmlich die Luft abgeschnürt. Regierungstruppen und mit ihr verbündete Einheiten rückten über die Hauptstraße an von Aufständischen gehaltene Gebiete heran. Somit sei die einzige Verbindung zum Rest des Landes blockiert.

Längst retten sich Bewohner Aleppos in ländliche Gebiete. In die Flucht treibt sie nicht nur die nackte Angst vor der Gewalt, sondern auch die Sorge, in einem Ort mit Lebensmittelengpässen und steigenden Preisen festzusitzen.

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Für die Menschen ist es eine Art Déjà-vu. Aleppo war schon Ziel einer beinahe erfolgreichen Offensive der Regierungstruppen auf die von Rebellen gehaltenen Viertel, ehe die USA und Russland am 27. Februar die Waffenruhe eingefädelt hatten. Die Feuerpause hielt überraschend gut, was als Zeichen der Erschöpfung aller Seiten gedeutet wurde. Offiziell wurde das Schweigen der Waffen zwar als „Einstellung der Feindseligkeiten“ tituliert, hatte jedoch nie umfassenden Charakter, weil Extremistengruppen wie die Terrormiliz Islamischer Staat und deren Rivale, der Al-Kaida-Ableger namens Nusra-Front, von dieser Vereinbarung ausgenommen waren. Und die Präsenz der Nusra-Front in so gut wie allen umkämpften Gebieten Syriens erlaubte es Assads Truppen und seinem Verbündeten Russland, auch von der Opposition gehaltene Areale ins Visier zu nehmen. Gleichzeitig ließ sich behaupten, dass die Feuerpause technisch gesehen nicht verletzt worden sei.

Mit der Zeit war von der Waffenruhe nicht mehr viel übrig, beide Konfliktparteien warfen sich immer mehr Verstöße vor, vor allem im strategisch so wichtigen Aleppo. Nun könnte es zu einem zermürbenden Kampf um die Stadt kommen - mit dramatischen Folgen: Beobachter rechnen mit zahlreichen Toten und einer neuen Welle von Flüchtlingen. Hinter vorgehaltener Hand wird auch über eine Einmischung von Saudi-Arabien und der Türkei gemunkelt, die als wichtigste Stützen der Aufständischen gelten. Riad und Ankara könnten ihnen in Anbetracht der verpuffenden Genfer Friedensgespräche wieder Waffen zukommen lassen. Noch hofft der UN-Sondergesandte de Mistura zwar auf eine Fortsetzung der Verhandlungen im Mai und deren Fortdauern bis Juli. Vorher müsse aber die Gewalt zurückgehen, mahnt er.

Firas Abi Ali, Chefanalyst der Denkfabrik IHS Country Risk, zeigt sich jedoch wenig optimistisch. Eine Offensive auf Aleppo berge auch das Risiko, dass sich die syrische Opposition dort wieder mit Gruppen wie der Nusra-Front zusammentun könnte. Wahrscheinlicher würde auch eine Kooperation der Nusra-Front mit dem IS, um Ortschaften südlich von Aleppo einzunehmen, die für die Versorgung der Assad-Truppen bedeutsam seien.

Auch Hilal Chaschan von der Amerikanischen Universität in Beirut, zeichnet ein düsteres Bild. „Die Kämpfe werden schlimmer werden“, prophezeit er. „Ich denke, wir werden eine Eskalation erleben, ehe ernsthafte Friedensgespräche beginnen.“

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