Unruhen in Tunesien Der Preis der Freiheit

Tunesien hat 2011 als einziges Land nach dem arabischen Frühling die Demokratie eingeführt. Doch nun demonstrieren erneut Nacht für Nacht wütende Tunesier – dieses Mal gegen Steuererhöhungen.

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Auslöser der Unruhen war ein neues Finanzgesetz, das seit dem 1. Januar 2018 gilt. Quelle: dpa

Madrid Brennende Autos, eingeschlagene Fensterscheiben von Supermärkten, demolierte Geldautomaten: In zahlreichen Städten Tunesiens wiederholt sich dieses Bild seit Anfang der Woche Nacht für Nacht. Vor allem in den Städten im vernachlässigten Landesinneren machen die Menschen ihrer Wut Luft. „Geplant waren eigentlich friedliche Demonstrationen, aber der Unmut gegen die desolate wirtschaftliche Lage ist so groß, dass er in Gewalt umschlägt“, sagt Ignacio Àlvarez-Ossorio, Maghreb-Experte der spanischen Stiftung Fundación Alternativas.

Die Lage ist in einigen Orten bereits so weit eskaliert, dass die Regierung die Armee einsetzt, um Verwaltungsgebäude zu schützen. Für den heutigen Freitag ist eine Großdemonstration in der Hauptstadt Tunis geplant.

Auslöser der Proteste ist ein neues Finanzgesetz, das am 1. Januar in Kraft getreten ist. Die Regierung will damit ihre steigenden Schulden in den Griff kriegen. Die darin vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung belastet jedoch vor allem diejenigen, die ohnehin schon arg gebeutelt sind. So werden Lebensmittel, Medikamente und Benzin teurer.

Seit dem Sturz des Diktators Ben Ali im Jahr 2011 genießen sie zwar politische Freiheit, wirtschaftlich aber geht es vielen schlechter. Die Arbeitslosigkeit ist auf 15 Prozent gestiegen, bei den Jugendlichen ist sie noch deutlich höher. Die Inflation lag im November und Dezember bei über sechs Prozent und war vor allem von steigenden Lebensmittelpreisen getrieben. Große Teile der Bevölkerung sehen in den nun verordneten Steuererhöhungen deshalb eine Zumutung.

„Der Frust ist groß, weil sich sieben Jahre nach dem Umbruch die Lebensbedingungen für viele immer noch nicht verbessert haben. Es fehlen vor allem Jobs und eine Perspektive“, erklärt Haizam Amirah Fernández von der Denkfabrik Real Instituto Elcano in Madrid.

Die Tunesier hatten große Erwartungen an ihre friedliche Revolution. Auch 2011 waren wirtschaftliche Probleme zentraler Teil ihrer Proteste. Doch sie machten dafür den Autokraten Ben Ali und die Eliten des Landes verantwortlich, die Macht und Geld auf sich vereinten.

Auch wenn sich der Sturz Ben Alis am 14. Januar schon zum siebten Mal jährt: Viel hat sich daran noch nicht geändert. Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr verabschiedete die Regierung in Tunis ein Amnestie-Gesetz für Manager, die wegen Korruption angeklagt waren. Dahinter stand der Versuch, die Unternehmer wieder zu Investitionen im Land zu bewegen, wenn sie keine Angst mehr vor Verfolgung haben müssten. Viele Tunesier sahen darin jedoch einen Verrat an der Revolution – die Profiteure der Amnestie waren vor allem Vertraute von Ben Ali.

Dessen Sturz hat neue wirtschaftliche Probleme geschaffen. Investoren hielten sich angesichts der zunächst unklaren politischen Lage in dem Land zurück, 2015 erschütterten zudem zwei Terroranschläge im Land die wichtige Tourismusbranche.

Einen Teil der Schuld an der Misere trägt aber auch die tunesische Regierung. Der Internationale Währungsfonds (IWF) beklagte im vergangenen Dezember „bedeutende Verzögerungen bei der Abschaffung der lange bestehenden Wachstumshindernisse ”. Dazu zählt der Fonds etwa die veraltete öffentliche Verwaltung und den unzureichenden Zugang zu Krediten. Gerade Darlehen sind aber eine Grundbedingung für Investitionen. Das jüngste Finanzgesetz ist jedoch offenbar just dem Druck des IWF geschuldet, der als Voraussetzung für weitere Finanzhilfen an Tunesien eine stärkere Haushaltsdisziplin gefordert hatte.

Experten mahnen nun dringend weitere Reformen an. „Wenn noch mehr Zeit verstreicht, bis die Bevölkerung einen wirtschaftlichen Fortschritt spürt, besteht die Gefahr, dass sie wieder Abschied von der Demokratie nimmt“, warnt Amirah Fernández.

Das aktuelle Konstrukt in der jungen Demokratie ist brüchig. Über 600 Demonstranten hat die tunesische Regierung in den vergangenen Tagen verhaftet. Das Innenministerium argumentiert, bei den Festnahmen handele es sich nicht um friedliche Demonstranten, sondern um Plünderer und Randalierer, die die Lage ausnutzen wollten. Am Montag starb ein Demonstrant, die Gründe sind noch unklar.

Maghreb-Forscher Álvarez-Ossorio sieht in dem harten Vorgehen der tunesischen Polizei einen Rückfall in totalitäre Zeiten. „Das erinnert an die Epoche unter Ben Ali“, sagt er. Und es werde die Lage nur noch verschlimmern. „Mehr Repression bedeutet mehr Mobilisierung von Demonstranten. Das könnte zu einem Schneeball werden, der in den kommenden Tagen noch anschwillt.“

Dabei ist trotz der aktuellen Probleme ein Ende der wirtschaftlichen Misere in Sicht: Die Touristenzahlen steigen langsam wieder. Der IWF rechnet für dieses Jahr mit einem Wachstum von drei Prozent – das ist deutlich mehr als die 1,3 Prozent im Jahr 2016 und die prognostizierten 2,4 Prozent für 2017. Auch die Regierung verspricht den Tunesiern, dass 2018 das letzte harte Jahre sein wird. Die Frage ist allerdings, ob sie derzeit nicht dabei ist, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen.

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