
Verfolgt man den US-Wahlkampf, könnte man schnell den Eindruck bekommen, die USA steckten tief in der Krise. Donald Trump beschwört regelrecht die Schwächen des Landes, fabuliert von hoher Arbeitslosigkeit, leugnet die offiziellen Zahlen, und führt verbittert aus, wie andere Staaten angeblich an seiner Heimat vorbeigezogen sind.
Die Realität sieht weitaus freundlicher aus. Die USA wachsen beständig, die Arbeitslosigkeit kennt seit Jahren nur eine Richtung: nach unten, und selbst die Neuverschuldung hat US-Präsident Barack Obama zuletzt in den Griff bekommen. Die Inflation ist über die Zielmarke von zwei Prozent geklettert und Unternehmen sind positiv gestimmt, gehen von guten Geschäften auch in den kommenden Monaten aus und suchen – zum Teil verzweifelt – Arbeitskräfte.
Dass die Chefin der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) mit ihrer im vergangenen Jahr angekündigten Zinswende noch immer nicht ernst macht und die Zentralbank zuletzt weitere Zinserhöhungen abgelehnt hat, ist immer weniger nachvollziehbar. Ja, die Weltkonjunktur schwächelt. Ja, die US-Wirtschaft könnte deutlicher anziehen. Doch eine moderate Zinserhöhung würde weder die heimische Konjunktur abwürgen und für höhere Arbeitslosenzahlen sorgen, noch Weltwirtschaft und Finanzmärkte in Aufruhr versetzen. Das scheint auch die Fed-Chefin zunehmend zu glauben.
Die wichtigsten Fakten zur niedrigen Inflation
Autofahrer können sich ebenso freuen wie alle, die Haus oder Wohnung heizen müssen: Die Sprit- und Energiepreise liegen seit Monaten unter dem Vorjahresniveau. Auch der starke Euro trägt dazu bei, dass Tanken und Heizen günstiger wird: Die Euro-Stärke verbilligt die in Dollar abgerechneten Rohölimporte. Niedrige Inflation ist also in diesem Fall gut fürs Portemonnaie: Verbraucher bekommen mehr für ihr Geld. Allerdings liegt selbst die derzeit sehr niedrige Inflationsrate in Deutschland noch über den Zinsen, die aktuell auf den meisten Sparbüchern oder Tagesgeldkonten zu verdienen sind. Ersparnisse verlieren also unter dem Strich an Wert. Allerdings wären die Einbußen für Sparer noch größer, wenn die Inflation höher läge.
Das Problem ist, wie Verbraucher und Unternehmen die künftige Entwicklung des Preisniveaus einschätzen. Wer weiter sinkende Preise erwartet, verschiebt vielleicht den Kauf der neuen Waschmaschine oder die Investition in die neue Fabrikhalle - denn es kann ja eigentlich nur günstiger werden. Das könnte eine gefährliche Abwärtsspirale in Gang setzen: Unternehmen machen weniger Gewinn, Mitarbeiter werden entlassen. Diese können sich dann weniger leisten und der Druck, Preise weiter zu senken, nimmt zu. Diese Verkettung lähmt die Konjunktur. In der Folge sinken auch die Steuereinnahmen und die Belastungen durch Schulden und Sozialleistungen nehmen zu.
70 Prozent des Inflationsrückgangs im Euroraum, so hat es kürzlich EZB-Präsident Mario Draghi vorgerechnet, gehen auf das Konto gesunkener Energie- und Lebensmittelpreise. Dass das Preisniveau in Deutschland noch höher ist als in vielen anderen Eurostaaten liegt daran, dass in Ländern wie Griechenland, Spanien und Co. Unternehmen Preise senken müssen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Zudem müssen Regierungen sparen, um hohe Schuldenberge abzutragen. In Deutschland ist die Konjunktur hingegen relativ robust. Das schafft Raum für Investitionen und Lohnerhöhungen.
Darüber gehen die Meinungen auseinander. So warnt das DIW vor der Gefahr „einer sich selbst verstärkenden Deflationsspirale“ bei langanhaltend niedrigen Inflationsraten. DIW-Präsident Marcel Fratzscher fordert ein Eingreifen der Europäischen Zentralbank. Im „Focus“ schreibt er: „Ohne ein beherztes Eingreifen der EZB sehe ich schwarz.“ Europas Währungshüter rechnen zwar mit einer niedrigen Inflationsrate in diesem und im kommenden Jahr, Deflationsrisiken sehen sie aber nicht.
Draghi hat klargestellt, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, sollte die Teuerungsrate überraschenderweise weiter sinken. Die Notenbank prüfe auch weitere unkonventionelle Maßnahmen, darunter ein Programm zum Anleihekauf („Quantitative Lockerung/QE). „Ob die EZB noch einmal die Zinsen senkt, oder gleich ein breit angelegtes Anleihenkaufprogramm beschließt, würde wohl davon abhängen, wie stark sie ihren mittelfristigen Inflationsausblick nach unten korrigiert“, glaubt Commerzbank-Ökonom Christoph Weil.
Die EZB erwartet, dass die Inflationsrate schon im April wieder etwas anziehen wird. Volkswirt Weil erklärt, warum: Der übliche Anstieg der Preise für Reisen und Hotelübernachtungen rund um Ostern fällt in diesem Jahr in den April und nicht wie 2013 in den März. Zudem dürften die Energiepreise im April anders als im Vorjahr nicht sinken. Hierfür sprechen nach Weils Einschätzung etwa die tendenziell höheren Benzinpreise während der Osterferien. Insgesamt erwartet die Commerzbank, dass die Inflation im Euroraum in den kommenden Monaten um 0,8 Prozent pendeln wird.
Vorerst ja, allerdings stiegen die Preise für Nahrungsmittel in Deutschland zuletzt nicht mehr so rasant wie in den vergangenen Monaten. Da wegen des milden Wetters früher frisches Obst und Gemüse zu haben ist, dürfte der saisonübliche Preisrückgang für diese Waren in diesem Jahr früher einsetzen. 2013 hatte das kalte Frühjahr die Ernte verzögert. Sinkende Preise für Lebensmittel freuen die Verbraucher, sie können allerdings die Inflation insgesamt wieder etwas drücken.
Bei einer viel erwarteten Rede auf der jährlichen Tagung von Notenbankern aus aller Welt in Jackson Hole, Wyoming, hat Janet Yellen durchblicken lassen, dass weitere Erhöhungen der Leitzinsen in den USA nur noch eine Frage der Zeit sind. „Im Lichte der fortgesetzten soliden Situation auf dem Arbeitsmarkt und unseren Prognosen für die volkswirtschaftliche Aktivität und die Inflation glaube ich, dass die Argumente für eine Erhöhung der Leitzinsen stärker geworden sind“, sagte Yellen.
Die Notenbankchefin betonte, die Federal Reserve werde sich in ihren geldpolitischen Entscheidungen von den tatsächlichen Wirtschaftsdaten und nicht von Prognosen leiten lassen. Das Wirtschaftswachstum in den USA hinkt derzeit hinter den Prognosen leicht zurück. Am Freitag hatte das Wirtschaftsministerium ein auf das laufende Jahr hochgerechnetes Wachstum von 1,1 Prozent bekanntgegeben. Arbeitsmarkt und Inflation tendierten jedoch in Richtung der Zielvorgaben, sagte Yellen.
Die Federal Reserve hatte ihren Leitzins zuletzt im Dezember vergangenen Jahres erhöht. Er liegt derzeit auf einem Zielniveau von 0,25 bis 0,5 Prozent. Zuvor hatte ihn die Zentralbank im Zuge der Finanzkrise jahrelang bei praktisch Null belassen. Die Fed hatte für das Jahr 2016 bis zu vier Zinserhöhungen angedeutet, jedoch bislang keine realisiert. Die nächste Möglichkeit dazu bestünde bei der Sitzung des Offenmarktausschusses am 21. September.
Der Zeitpunkt bietet sich an, finden doch am 8. November die Präsidentschaftswahlen statt. Ein Sieg Donald Trumps könnten aufgrund seiner erstaunlichen Aussagen – eventuelle Neuverhandlung der Schulden, Aufkündigung von Freihandelsverträgen, umfassende Steuererleichterungen – die Märkte in Aufruhr versetzen. Die Notenbank wäre gut beraten – ähnlich wie die Bank of England vor dem Brexit-Referendum – Vorsorge zu treffen, um möglichen Verwerfungen an den Märkten entgegentreten zu können. Je weiter der Leitzins im November von der Null entfernt ist, desto mehr Spielraum hat die Fed. Der alte Spruch „Tust du nichts, machst du auch nicht falsch“, gilt in der (Geld-)Politik nicht. Das Abwarten der Fed ist riskant. Es ist Zeit für eine nächste Zinserhöhung.