Ein Überblick über die Schlagzeilen der letzten Tage: „Terror in den Straßen - Tote bei Plünderungen“. „Venezolaner essen Hundenahrung“. „Fünf Venezolaner bei Flucht nach Curazao ertrunken“. „Das Drama der leeren Regale“. „Im Tunnel der Hyperinflation.“ „Militärintervention in Venezuela?“
Im ganzen Land - einst das reichste Südamerikas und mit den größten Ölreserven der Welt gesegnet - kommt es seit Jahresbeginn verstärkt zu Plünderungen, da die Lebensmittelversorgung immer prekärer wird. Das Militär muss Eingänge zu Supermärkten sichern, Tränengas wird eingesetzt. Fast täglich gibt es Tote bei Unruhen wegen der Hungerkrise. Viele erinnert die Lage an die Wirtschaftskrise vor dem „Caracazo“ 1989, als bis zu 3000 Menschen bei Aufständen starben.
Die Inflation galoppiert, die Preise für Lebensmittel explodieren - ebenso die Gewalt und Rechtlosigkeit. Im Internet kursiert ein Video, dass ein gutes Dutzend hungriger Männer zeigt, die auf die Weide einer privaten Ranch eindringen, eine Kuh jagen und sie mit Stöcken zu erschlagen versuchen. Der Hunger treibt die Anarchie sichtbar an.
Die wichtigsten Antworten zur drohenden Staatspleite in Venezuela
Experten sind sich einig, dass die Probleme des Landes auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik der sozialistischen Regierung zurückgehen. Venezuela war einmal wohlhabend, leidet aber unter Misswirtschaft wie der einseitigen Ausrichtung auf Ölexporte: 95 Prozent der Einnahmen kommen daraus. Der globale Ölpreisverfall trifft Venezuela daher besonders hart. So sanken Öleinnahmen von 39,7 Milliarden Dollar 2014 auf 5,3 Milliarden Dollar 2016. Und die Hyperinflation mit Raten von geschätzt fast 1000 Prozent entwertet das Geld rasant. Die Einfuhr von Lebensmitteln und Medikamenten wird immer teurer. Schon jetzt sind gerade in der Hauptstadt Caracas überall Menschen zu sehen, die im Müll nach Essen suchen.
Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil es keine einheitliche Definition von Staatspleiten gibt. Auch ein Insolvenzrecht, wie bei Zahlungsschwierigkeiten von Privathaushalten, existiert für Staaten nicht. Allgemein wird von einer Pleite gesprochen, wenn ein Land seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Dieser Fall ist in Venezuela im Grunde eingetreten: Die Rating-Agenturen Standard & Poor's und Fitch haben einen Zahlungsausfall festgestellt, weil Venezuela fällige Zinsen für Staatsanleihen nicht fristgerecht gezahlt hat. Allerdings ist die Sache nicht ganz so einfach.
Ein Zahlungsausfall ist bei Ländern nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer umfassenden Staatspleite. So kann es durchaus sein, dass Venezuela die säumigen Zinsen doch noch zahlt. Rating-Agenturen sprechen daher auch von einem „begrenzten“ oder „technischen“ Zahlungsausfall. Damit soll signalisiert werden, dass das Land Zahlungsprobleme hat. Für die Frage, ob Venezuela nachhaltig pleite ist oder nicht, ist aber entscheidend, ob der Staat nur vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr zahlt.
Neben Rating-Agenturen, die die Kreditwürdigkeit von Staaten bewerten, kommt dem Derivateverband ISDA eine wichtige Rolle zu. Dieser hat sich dem Urteil der Rating-Agenturen angeschlossen und am späten Donnerstag entschieden, dass spezielle Versicherungen für Investoren gegen einen Zahlungsausfall Venezuelas im Wert von fast 1,6 Milliarden Dollar (1,36 Mrd Euro) ausgezahlt werden müssen.
Das Land kann die Pleite ausrufen, so wie es Russland 1998 getan hat. Präsident Nicolás Maduro hat schon eine Restrukturierung der Schulden angekündigt. Das bedeutet, dass das Land mit seinen Gläubigern neu verhandelt. Ziel ist eine Schuldenerleichterung, entweder per Schuldenerlass (Schuldenschnitt) oder indirekt etwa über eine Verlängerung der Schuldenlaufzeit. Russland, einer der wenigen Verbündeten, hat einer Erleichterung schon zugestimmt.
Eine Staatspleite könnte zum Sturz des Präsidenten führen. Kenner des Machtgefüges in Caracas sagen, dass viele Sozialisten Anleihen vor allem des Ölkonzerns PDVSA besitzen und viel Geld verlieren würden. Daher sei auch der Druck auf Maduro so groß, keine Pleite zuzulassen.
Weitreichende. Der Pleitestaat, verliert über Jahre seine Kreditwürdigkeit. Die Gläubiger, gerade aus dem Ausland, sind dann nicht mehr bereit, neue Darlehen zu gewähren. Das kann schwere wirtschaftliche Verwerfungen nach sich ziehen, weil dringende Staatsausgaben nicht mehr finanzierbar sind. Und die Gläubiger, oft große Banken, laufen Gefahr, einen Großteil ihrer Forderungen zu verlieren. Daher ist das Interesse an einem Kompromiss auf beiden Seiten groß. Meist besteht er aus einem teilweisen Schuldenerlass.
Ja, auch wenn Venezuela ein relativ kleiner Abnehmer deutscher Exporte ist. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) hat bereits vor finanziellen Ausfällen gewarnt. „Das gilt insbesondere für die Unternehmen, die in der Vergangenheit Waren und Dienstleistungen an den venezolanischen Staat oder seine Staatsunternehmen geliefert haben“, sagte DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Viele von ihnen hätten erhebliche Außenstände. „Wenn die Finanzlage im einst reichsten Staat Lateinamerikas tatsächlich so hoffnungslos ist, wie es den Anschein hat, droht ein Totalverlust.“
Private Supermärkte wurden wegen der weltweit höchsten Inflation, die nach Angaben der Wirtschaftskommission des entmachteten Parlaments 2017 bei über 2600 Prozent lag, zu Preissenkungen gezwungen. Sowieso wirft die sozialistische Regierung privaten Unternehmern vor, mit Sabotage die Krise zu verschärfen. Aber denen fehlen Getreide oder andere Stoffe aus dem Ausland, um noch richtig produzieren zu können.
In den vergangenen Tagen hast sich die Geldentwertung so beschleunigt, dass der Monatslohn maximal ein paar Euro wert ist. Obwohl Caracas einem Pulverfass gleicht und das Land wegen der Entwertung des Bolivar kaum noch notwendige Importe bezahlen kann: Ausgerechnet der Hunger könnte dem sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro helfen, die Wiederwahl zu sichern - und die Unterstützung des Militärs. Es gibt Hinweise, dass die für Ende 2018 geplante Wahl vorgezogen wird.
Um in den Genuss stark subventionierter Lebensmittelpakete zu kommen (mit Öl, Reis, Thunfisch, Milchpulver und Mehl), die es vielerorts irgendwie immer noch gibt, muss man ein „Carnet de la Patria“ beantragen - und erklären, die Regierung zu unterstützen.
Über dieses Carnet wurde bei den Regionalwahlen 2017 laut Berichten der Opposition zum Teil kontrolliert, ob man auch wirklich den Sozialisten die Stimme gibt. Der Schriftsteller und Maduro-Kritiker Leonardo Padrón nennt es eine „Erlösung vom Hunger gegen Stimmen“.
Zudem will Maduro mit einer Kryptowährung, dem „Petro“, das Land aus den Fängen der Inflation befreien. Er soll mit Ölreserven abgesichert werden und damit versucht werden, Einfuhren etwa von Lebensmitteln besser bezahlen zu können. Doch Experten halten das Vorhaben für wenig aussichtsreich - denn was wenn niemand den „Petro“ akzeptiert?. Aber er ist ein politischer Überlebenskünstler, ein Populist, der es wie einst die Castros in Kuba verstanden hat, den Kampf David gegen Goliath (USA) zu propagieren. Die Regierung von Donald Trump hat gegen Maduro und Dutzende Gefolgsleute Sanktionen verhängt, Konten in den USA eingefroren, zudem sehen sie Verbindungen zum Kokainhandel.
Maduro kämpft einen „ökonomischen Krieg“
Rückblick auf das schwarze Jahr 2017 in Venezuela: Monatelange Proteste, Straßenschlachten, Tränengas über Caracas. Über 120 Tote, tausende Festnahmen. Die linientreue Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz bricht mit Maduro, sie wird zur Gegenspielerin. Kurz vor ihrer Festnahme kann sie mit ihrem Mann per Boot nach Aruba und weiter nach Kolumbien flüchten. Weitere Oppositionelle fliehen oder sitzen im Gefängnis. Einer der Hoffnungsträger, der 31 Jahre alte Freddy Guevara, ist gefangen im Asyl in der Botschaft Chiles.
Nach einer Wahl, die von der Opposition boykottiert wurde, setzte Maduro eine linientreue Volksversammlung ein, die eine neue Verfassung erarbeiten soll. Nach kubanischem Vorbild ist sie eine Art „Volksrat“, der alle relevanten Entscheidungen trifft, darunter auch die Entmachtung des Parlaments, in dem die Opposition eine klare Mehrheit hatte. Die abgehängten Bilder von Hugo Chávez, Begründer des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wurden in der Nationalversammlung wieder aufgehängt. Die Proteste kamen danach abrupt zum Erliegen.
Maduro macht einen „ökonomischen Krieg“ und den niedrigen Ölpreis für das Elend verantwortlich - die Wahrheit liegt eher in Misswirtschaft, dem Verlassen allein auf das Öl - und in Korruption. Es gibt Hinweise, dass sich Militärs und Sozialisten sogar an dem System mit der Lebensmittelverteilung bereichern: Pakete werden abgezweigt und für ein Vielfaches auf dem blühenden Schwarzmarkt verkauft.
Unter den Armen, die durch Sozialprogramme und hunderttausende neue Wohnungen erstmals richtige Unterstützung erfuhren, ist der Zuspruch trotz allem weiterhin hoch, sogenannte Colectivos verbreiten immer wieder bewaffnet auf Motorrädern Angst bei den Gegnern Maduros.
Das millionenfach ausgestellte „Carnet de Patria“ ist eine Art „Ich-halte-zu-Maduro-Ausweis“. In der Not steigt der Druck, sich zumindest auf dem Papier zu den Sozialisten zu bekennen, während die Gegner tagelang vor Supermärkten Schlange stehen, in denen die meisten Regale ohnehin leer sind. Maduro zur Hilfe kommt auch die Zerstrittenheit der Opposition - die auch keinen rechten Draht zum Heer der Armen gefunden hat. Viele kommen aus der Oberschicht, die per WhatsApp überteuerte Essenslieferungen nach Hause bestellt.
Ex-Planungsminister Ricardo Hausmann, heute Professor in Harvard, betont, die Zahl der Hungernden sei stark gestiegen, zudem würden 350.000 Barrel Öl weniger pro Tag gefördert als im Mai. Er bringt als letzten Ausweg eine militärische Intervention ins Spiel. Das weiterhin tagende, aber machtlose Parlament solle Maduro mit der Oppositionsmehrheit des Amtes entheben, und eine Übergangsregierung benennen - die von den Sozialisten natürlich nicht anerkennt würde.
Deshalb müsste man dann das Ausland um militärische Hilfe bitten. Er fordert einen „Día D para Venezuela“, einen Tag der Intervention. Doch fast alle Experten halten das wegen der Größe und Stärke des Militärs für eine schlechte Idee: dem Land drohe dann ein Gemetzel.