Venezuela in der Krise Ein Land verhungert

Venezuela hat die größten Ölreserven der Welt. Trotzdem liegt es wirtschaftlich am Boden. Viele Einwohner lassen Mahlzeiten ausfallen, um über die Runden zu kommen und immer mehr Städter bauen wieder selbst Gemüse an.

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Vor einem Supermarkt in Caracas suchen Menschen in Abfällen nach Lebensmitteln. Quelle: AP

Caracas Kelly Vega hat fast 14 Kilo in drei Monaten verloren, während sie ihre sechsjährige Tochter satt zu bekommen versucht. „Wir essen zwei Mahlzeiten am Tag“, erzählt sie. „Wenn wir Frühstücken, gibt es kein Mittagessen. Und wenn wir Lunch haben, dann fällt das Abendessen aus.“ Sie arbeitet als Haushaltshilfe in einem luxuriösen Viertel im Südwesten der Hauptstadt Caracas. Ihr wöchentliches Salär von umgerechnet 22 Euro reiche für viele Lebensmittel nicht mehr, sagt sie.

Venezuela verfügt über die größten Ölreserven der Welt. Doch das Land leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise, für die Kritiker das jahrelange Missmanagement der regierenden Sozialisten verantwortlich machen. Die Regierung gibt konservativen Unternehmern die Schuld für Engpässe bei Lebensmitteln und anderen Gütern. Sie wirft ihnen vor, Güter zu horten, um Chaos zu stiften.

Zur selben Zeit liegen Importe sowie die Produktion von Lebensmitteln flach, die Inflation galoppiert im dreistelligen Bereich und der Ölpreis ist eingebrochen. Einige Venezolaner hatten die Produktion von Lebensmitteln einst als unbezahlbaren Luxus aufgegeben. Doch jetzt kehren so manche Städter zur Landwirtschaft im eigenen Garten zurück, um wieder etwas Gemüse auf den Tisch zu bekommen.

Die Regierung unterstützt eine entsprechende Kampagne. Lorena Freitez, Ministerin des neu gegründeten Ministeriums für Städtische Landwirtschaft, will schon für 2019 erreichen, dass bis zu 20 Prozent des Angebots aus solchen Gärten kommen. „Urbane Landwirtschaft wird die Effekte der Engpässe abfedern“ sagt sie optimistisch. „Die Städte werden nicht so stark auf Importe angewiesen sein. Und wir werden große Schritte machen in puncto Lebensmittelsouveränität“.

Inmitten der engen Straßen und maroden Hütten eines der größten Slums in Südamerika erspäht das wachsame Auge bereits etwas Unerwartetes: eine sorgfältig gepflegte Tomatenpflanze und ein Busch Basilikum. Die stolze Eigentümerfamilie hofft, dass sie in wenigen Monaten wieder etwas Gemüse essen kann.

Wissenschaftler von drei örtlichen Universitäten haben in einer Studie herausgefunden, dass etwa zwölf Prozent der Einwohner von Caracas Mahlzeiten ausfallen lassen. Dies stehe in scharfem Kontrast zu der Situation vor wenigen Jahren, als der Ölpreis noch nicht eingebrochen war und viele Venezolaner keine Probleme hatten, alle nötigen Lebensmittel zu bekommen, heißt es.


Nur ein Notpflaster

Früchte und Gemüse wie Mango, Kartoffel, Yucca oder Bananen sowie Sardinen waren vor der Krise nicht besonders gefragt unter den Venezolanern. Doch jetzt sind sie für viele die Hauptnahrung oder sogar das einzige Lebensmittel.

Francisco Salazar, Leiter eines Gemeinderates in Caracas, pflanzt mit Nachbarn in einem großen Gemeinschaftsgarten Bohnen, Salat und Dutzende anderer Gemüsesorten an, um Slumbewohnern zu helfen. Doch er fürchtet, dass dies nicht genug sein wird. „Wir haben kein Mehl, wir haben keine Nudeln und auch keinen Reis“, sagt er. „Alles, was wir haben, ist ein Notpflaster, das das Problem nicht lösen kann.“

Als Folge der schweren und komplexen Wirtschaftskrise sehen sich der Studie der drei Universitäten aus dem Jahr 2015 zufolge rund 87 Prozent der Bevölkerung nicht mehr in der Lage, mit ihrem Verdienst die nötigen Lebensmittel zu kaufen.

Die Ärztin Marianella Herrera, die an der Studie beteiligt war, glaubt zwar nicht, dass Venezuela vor einer allgemeinen Hungersnot steht. Doch gebe es in einigen Gemeinden oder unter Einzelpersonen Hunger, sagt sie. Die Zahl der Betroffenen, die sich nur noch zwei Mahlzeiten am Tag leisten können, dürfte mit der galoppierenden Inflation und den Engpässen bei Lebensmitteln gestiegen sein.

Zahlen über das bisherige Ausmaß des Hungers und Hungerns gibt es nicht. Doch einige Analysten sagen, dass immer öfter Menschen zu sehen seien, die in Mülleimern nach Lebensmitteln suchen. Auch das wieder aufgeflammte Plündern von Geschäften hat bei einigen die Alarmglocken schrillen lassen.

Bei Kelly Vega war es schon so weit, dass sie ihre Tochter Alexa eine Woche lang nicht mehr zur Schule schicken konnte: Ihr fehlte das Geld, um der Kleinen das Frühstück zu servieren. Stattdessen nahm sie sie mit zu ihrer Arbeitsstelle.

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