Venezuela in der Krise Wenn ein aufgeschlagenes Knie den Tod bedeuten kann

Venezuelas Wirtschaftskrise hat auch die Gesundheitsversorgung ins Chaos gestürzt. Es mangelt an Klinikbetten und Ausrüstung. Oft müssen Angehörige der Kranken selbst die lebensrettenden Medikamente auftreiben.

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Ashley schürfte sich das Knie bei einem Sturz auf. Eine Woche später bekam sie Fieber. Dann musste sie ins Krankenhaus. Quelle: AP

Caracas Es war nur ein aufgeschürftes Knie. Und so taten die Eltern der achtjährigen Ashley Pacheco, was Eltern in solchen Fällen meistens tun: Sie trösteten sie, reinigten die Wunde zwei Mal und hakten die Sache ab. Zwei Wochen später wand sich die Kleine weinend vor Schmerzen in einem Krankenhausbett. Die Mutter harrte Tag und Nacht an ihrer Seite aus, während der Vater versuchte, in Caracas Antibiotika aufzutreiben. Sie wussten nicht, dass es noch schlimmer kommen sollte.

Nach Jahren des Missmanagements und einem Preissturz beim Öl steckt Venezuelas Wirtschaft in einer schweren Krise. Das hat auch die Gesundheitsversorgung geschwächt. Die sozialistische Regierung nennt das zwar eine Erfindung politischer Gegner und weigert sich, humanitäre Hilfe ins Land zu lassen. Doch ihre eigenen Berichte besagen, dass im vergangenen Jahr jeder dritte Patient gestorben ist, der in öffentliche Krankenhäuser eingewiesen wurde. Die Zahl der nutzbaren Betten ist seit 2014 um 40 Prozent gesunken, 85 Prozent der Arzneien sind knapp.

„Ich weiß wirklich von keinem anderen Land, in dem sich die Dinge so schnell und in einem solch unglaublichen Ausmaß verschlechtert haben“, sagt Rafael Perez-Escamilla, Professor für öffentliche Gesundheit an der Yale University.

Ashley schürfte sich das Knie Mitte Juli bei einem Sturz auf. Eine Woche später bekam sie Fieber. Ärzte in einer örtlichen Klinik sagten den Eltern, es werde ihrer Tochter schon bald besser gehen. Aber das Fieber stieg und das Knie schwoll an.

Also setzten sich Maykol und Oriana Pacheco mit dem Mädchen in der Mitte auf ihr Motorrad und klapperten drei weitere Hospitäler ab. Keines hatte die nötige Medizin oder ein Bett für Ashley.

Am nächsten Morgen war das Fieber gefährlich hoch und die Eltern versuchten es mittlerweile verzweifelt in einem vierten Krankenhaus. Das Mädchen kam in die Notaufnahme.

Die Klinik war schmutzig, das Bleichmittel zum Reinigen der Böden ausgegangen. Hunde streunten durch das Gebäude, Kakerlaken huschten an den Wänden entlang. Das Waschbecken in Ashleys Zimmer war kaputt, es gab keine Seife. Das Wasser im Badezimmer kam manchmal schwarz aus der Leitung.

Doch die Eltern waren froh, dass ihr Kind überhaupt in diesem hoffnungslos überfüllten Hospital aufgenommen wurde, in dem sich Frauen in den Wehen Betten teilen mussten. Die Ärzte stellten bei Ashley eine Staphylokokken-Infektion fest und gaben ihr den letzten Krankenhaus-Vorrat an Vancomycin, einem häufig benutzten Antibiotikum.

Aber am Abend ging es der Kleinen immer schlechter. Ihr Herz raste, sie keuchte, bei jedem Einatmen fiel der Brustkorb ein.


Wettlauf gegen die Zeit

Die Ärzte vermuteten, dass die Bakterien in die Lunge gewandert waren, aber das letzte Röntgengerät der Klinik hatte im Vormonat den Geist aufgegeben. So brachte denn ein Krankenwagen Ashley zur Untersuchung in eine private Klinik, die Kosten verschlangen einen Wochenlohn der Familie.

Der Verdacht bestätigte sich: Ashleys rechter Lungenflügel war kollabiert. Und ohne mehr Antibiotikum und einer Maschine zum Absaugen der eingeschlossenen Luft, so sagten die Ärzte, werde das Mädchen den nächsten Abend nicht mehr erleben. In panischer Angst machten sich die Eltern auf die Suche nach einer Klinik mit einer Absaugmaschine, riefen alle möglichen Freunde und Bekannten an – in der Hoffnung, dass irgendjemand helfen könne.

Tatsächlich fand eine Freund ein privates Krankenhaus mit der nötigen Ausrüstung. Ashley begann leichter zu atmen. Aber mittlerweile war ihr Bein massiv angeschwollen. Gelinge es nicht, die Infektion zu stoppen, dann müsse amputiert werden, sagten die Ärzte.

Ashleys Vater gesellte sich zu den Tausenden Venezolanern, die stundenlang vor Apotheken Schlange stehen – oft vergeblich. Maykol Pacheco wurde schließlich erst in einem anderen Krankenhaus fündig, ergatterte dort drei kostbare Röhrchen.

Jetzt aber benötigte Ashley eine Operation an ihrem infizierten Knie. Doch nur zwei der 27 OP-Räume der Klinik waren voll betriebsfähig und auf der Warteliste standen 150 Kinder.

Ein paar Tage nach dem Eingriff stieg bei Ashley plötzlich wieder das Fieber. Die Diagnose: eine Herzinfektion. Das wenige verfügbare Antibiotikum hatte nicht ausgereicht, die Ausbreitung der Bakterien zu verhindern. Erneut hastete der Vater durch Caracas, verbrachte den August damit, das wertvolle Vancomycin irgendwo aufzutreiben.

Endlich, knapp einen Monat nach Beginn ihres Krankenhausaufenthalts, ging das Fieber herunter. Doch kurz bevor Ashley nach Hause entlassen werden sollte, entwickelte sich eine Pilzinfektion in der Lunge. Sie brauchte eine Arznei, die – so die Ärzte – in Venezuela nicht mehr zu bekommen war.

Vater Pacheco versuchte, die Medizin aus dem Ausland zu beschaffen. Die Hilfe kam dann aus dem nächsten Krankenzimmer. Eine Mutter schenkte Ashley die Medizin, die sie selbst nicht mehr brauchte: Ihr Sohn war gestorben.

Ende September dann erklärten die Ärzte Ashley für infektionsfrei. Aber sie wird weitere Behandlung benötigen und wahrscheinlich irgendwann eine neue Herzklappe. Als das Mädchen zusammen mit seinen Eltern die Krankenstation verließ, riefen Ärzte und Pfleger der Familie einen Abschiedsgruß zu. Nicht „Auf Wiedersehen“, sondern „Viel Glück“.

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