Es sind Szenen wie im Bürgerkrieg. Menschen marschieren mit Gasmasken, Schutzhelmen und Blechschildern Richtung Polizei. Sie schmeißen Rauchbomben und Steine. Die Polizei reagiert mit Tränengas, rast mit Motorrädern und geschulterten Waffen in die Massen hinein. Es sind Szenen aus Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Jenem Land in Südamerika, das so große Ölreserven besitzt wie kein anderes Land der Welt – und trotzdem seit Monaten im Chaos versinkt.
Allein in den vergangenen 50 Tagen sind bei den Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung 50 Menschen ums Leben gekommen. In den Supermärkten des Landes stehen die Regale leer. Am Schwarzmarkt kostet Rindfleisch so viel wie eine Monatsmiete. Zehntausende Venezolaner verlassen ihr Land.
Präsident Nicolás Maduro ist in dieser Krise die tragische Figur. Er kämpft um das Erbe seines politischen Ziehvaters, Hugo Chavez – und stürzt sein Land so in den Abgrund. Statt Reformen setzt er auf Blockade, statt Gesprächsbereitschaft auf Repression. Es sind vor allem drei Fehler, mit denen er sein Land ruiniert.
Hungern und protestieren – Deswegen steht Venezuela vor dem Ruin
1. Maduro setzt noch immer auf das Öl
Venezuela könnte ein reiches Land sein, es besitzt die größten Ölreserven der Welt. Als der Ölpreis hoch war, sicherte das dem Land stetige Einnahmen. Viel Geld, mit dem die Regierung teure Sozialprogramme finanzierte. Doch seitdem sich der Ölpreis 2014 halbiert hat, versinkt Venezuelas Wirtschaft im Chaos.
Das Bruttosozialprodukt des Landes ist 2016 nach Schätzungen um 18 Prozent geschrumpft. Vier von fünf venezolanischen Haushalten leben laut einer Umfrage der Zentraluniversität von Venezuela in Armut. Fast 75 Prozent der Venezolaner haben in der Krise mehrere Kilo Gewicht verloren. Die Inflationsrate könnte nach Daten des Internationalen Währungsfonds in diesem Jahr auf 720 Prozent ansteigen, die Volkswirtschaft erneut um mehr als sieben Prozent schrumpfen.
José Guerra ist einer der wichtigsten Ökonomen Venezuelas und Abgeordneter der Opposition im Parlament. „Das ökonomische Modell vom Maduro hat uns in den Ruin geführt“, sagt er. Maduro setzt die Politik seines Vorgängers Hugo Chavez seit seinem Amtsantritt 2013 radikal fort. Private Unternehmen gängelt seine Regierung mit Vorschriften – oder verstaatlicht sie. Noch immer hofft Maduro auf steigende Ölpreise. Mehr als 90 Prozent von Venezuelas Exporteinnahmen hängen vom Öl ab.
Da der Ölpreis auf niedrigem Niveau verharrt, bröckeln Venezuelas Einnahmen und Währungsreserven dahin. Venezuela braucht aber gerade ausländisches Geld, um Nahrungsmittel, Maschinen und andere Produkte einzukaufen. Das ölreiche Land ist abhängig von Importen, weil im Land selbst zu wenig Industrie und Landwirtschaft existiert. Selbst Benzin muss Venezuela mittlerweile vom Erzfeind USA einführen – Investitionen in die eigene Ölförderung wurden zu lange verhindert.
„Die Fehler in Venezuelas Wirtschaftspolitik sind offensichtlich“, urteilt Claudia Zilla, Lateinamerika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Es gibt Misswirtschaft, starke Ölabhängigkeit, Deindustrialisierung und eine ideologische Führung, die Unternehmen verstaatlicht.“ Aus diesen Faktoren sei die aktuelle Krise entstanden. „Das Ergebnis sind eine dramatische Versorgungsknappheit und ein florierender Schwarzmarkt, auf dem immer weniger Produkte zu bekommen sind.“ Die Lage sei für viele Menschen katastrophal.
Hilfe abgeschmettert und Demokratie erstickt
2. Maduro hat Hilfe von außen zu lange abgeschmettert
Viele Venezolaner können sich seit der Krise nur noch zwei Mahlzeiten am Tag leisten – und nehmen deswegen ab. „Maduro-Diät“ nennen die Menschen das auf den Straßen von Caracas. Noch dramatischere Folgen haben das Fehlen von Medikamenten, die ausbleibenden Lieferungen an Spritzen, Ventilen, Atemmasken.
„Die Leute schleppen sich mittlerweile mit ihren letzten Kräften über die Grenze nach Kolumbien oder Brasilien“, berichtet Claudia Zilla. Dort bekämen sie selbst ohne Versicherung eine bessere medizinische Versorgung als zuhause. „In Venezuela ist etwa die Kindersterblichkeit enorm angestiegen“, sagt Zilla.
Organisationen wie die Caritas und andere Länder wollen deswegen helfen. Doch bis vor kurzem blockierte Maduro diese Hilfe. So stand eine Lieferung mit 75.000 Medikamenten im vergangenen Jahr wochenlang im Zoll – und wurde dann von Maduros Regierung konfisziert. Erst Ende März gab Maduro seine Haltung auf – und bat die Vereinten Nationen erstmals um Hilfe.
Claudia Zilla erklärt die lang anhaltende Blockadehaltung mit Maduros autoritärem Politikstil. „Autoritäre Regime stehen der Zivilgesellschaft immer kritisch gegenüber“, sagt sie. Maduro wolle verhindern, dass ihm jemand in seine Souveränität hineinpfuscht. Das Ergebnis dieser Haltung sei fatal.
3. Maduro erstickt die Demokratie
An teure Lebensmittel, leere Supermarktregale und miese Gesundheitsversorgung können sich Menschen gewöhnen. Eine Wirtschaftskrise allein löst nicht unbedingt Straßenschlachten aus. Aber Menschen verlangen nach Hoffnung, ihr Leben wieder verbessern können. Nach Möglichkeiten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Oder zumindest nach einem Mechanismus, um ihre Wut auszudrücken.
All das nimmt Präsident Maduro seinem Volk Stück für Stück weg. Vor zwei Jahren gewann die Opposition die Wahlen für das Parlament. Seitdem blockiert Maduro die Arbeit der Nationalversammlung. Dutzende politische Gegner sitzen im Gefängnis. Demonstrationen werden niedergeschlagen.
„Venezuela ist keine Demokratie mehr“, sagt Expertin Zilla. Es gebe keine Gewaltenteilung mehr, die Justiz sei korrumpiert. Auch die Wahlbehörde werde durch die Regierung gesteuert. Sie habe wichtige Wahlen mehrfach verschoben – ohne stichhaltige Gründe. „Dazu kommen Repressionen gegen politische Gegner auf der Straße“, sagt Zilla.
Für Zilla ist klar, dass dieser Kurs nicht ewig gut gehen kann. „Wenn die Wirtschaft stagniert und die Menschen keine Möglichkeit mehr haben, ihre Wut zu kanalisieren, gibt es eben Demonstrationen und Ausschreitungen.“ In einer Analyse über die Zukunftsaussichten für Venezuela kommt Zilla zu einem pessimistischen Ergebnis: „In Venezuela wächst das Risiko eines massiven Gewaltausbruchs.“