Verfassungsreform in der Türkei Erdogan nimmt Abschied von Europa

Recep Tayyip Erdogan baut die Türkei zu einem Ein-Mann-Staat um. Das Parlament spielt mit, auch die Zustimmung der Wähler scheint gesichert. Erdogans Rechnung könnte dennoch platzen. Ein Kommentar.

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Erdogan baut die Türkei zu einem Staat um, in dem er als Präsident nahezu unumschränkte Macht hat. Quelle: AP

Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel im kommenden Monat nach Ankara fliegt, kommt sie in eine andere Türkei. Die neue Präsidialverfassung, die Erdogan eine unumschränkte Machtfülle verschaffen und seinen Platz an der Staatsspitze auf absehbare Zukunft sichern soll, ist zwar noch nicht in Kraft. Das letzte Wort haben im Frühjahr die Wähler in einer Volksabstimmung. Aber es gibt wenig Zweifel daran, dass die Mehrheit der Türken die Pläne ihres Präsidenten billigen wird.

Erdogan ist ein gewiefter Wahlkämpfer. Es gibt keinen Oppositionspolitiker, der es mit ihm aufnehmen könnte. Die türkischen Medien sind weitgehend gleichgeschaltet und dem Präsidenten zu Diensten. Die Kritiker sind eingeschüchtert oder sitzen hinter Gittern. Erdogan ist der starke Mann, nach dem sich gerade angesichts der Bedrohung durch den Terror und die Bürgerkriege in den Nachbarländern viele Türken sehnen.

Die Weichen sind gestellt. Erdogan baut die Türkei zu einem Staat um, in dem er als Präsident nahezu unumschränkte Macht hat. Er ist Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in einer Person. Er kann seine Minister ohne Mitwirkung des Parlaments berufen und entlassen, ernennt die Universitätsrektoren und die obersten Richter. Er kann ohne Zustimmung der Nationalversammlung Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, den Notstand ausrufen und die Volksvertretung nach Gutdünken auflösen. Die Gewaltenteilung, das wichtigste Fundament des parlamentarischen Systems, wird untergraben.

Mit einer Demokratie westlicher Prägung hat das nichts mehr zu tun. Diese Verfassungsänderung bedeutet deshalb den Abschied von Europa. Erdogans neue Türkei erfüllt die Kopenhagener Kriterien für EU-Beitrittskandidaten wie stabile Institutionen für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Schutz von Minderheiten, Pluralismus, Toleranz und Solidarität nicht mehr. Die aus vielen Gründen bereits seit Jahren stockenden Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union werden damit gegenstandslos.

Dass Erdogan im neuen US-Präsidenten Donald Trump und Kremlchef Wladimir Putin politische Gesinnungsgenossen hat, mit denen er nun den Schulterschluss sucht, macht diese Entwicklung für die EU noch brisanter. Angesichts der heraufziehenden geopolitischen Umwälzungen wäre die Türkei für Europa gerade jetzt ein wichtiger Partner. Das gilt für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise, über die Merkel im Februar in Ankara sprechen will, wie auch für die Sicherheitspolitik.

Nun muss Europa umdenken. Es gehe nicht ohne die Türkei, lautete die Prämisse bisher. Man sollte sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass es künftig ohne die Türkei gehen muss.

Erdogan scheint zu glauben, dass nicht nur das eigene Land, sondern auch Europa künftig nach seiner Pfeife tanzen wird. Er will die Türkei zu neuer Größe führen. Spielen die Wähler weiter mit, könnte Erdogan bis 2034 durchregieren. Er wäre dann 80 – und über drei Jahrzehnte an der Macht.

Die Rechnung geht allerdings nur auf, wenn die Konjunktur rund läuft. Doch danach sieht es nicht aus. Anleger und Investoren ziehen sich zurück. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpft. Die Arbeitslosigkeit liegt auf einem Achtjahreshoch. Die Inflation nagt an den Realeinkommen. Früher oder später wird das zu sozialen Spannungen führen.

Die Abwendung von Europa, dem wichtigsten Handelspartner der Türkei, dürfte die heraufziehende Wirtschaftskrise noch verschärfen. Denn die meisten Investoren engagierten sich gerade wegen der europäischen Perspektive und der Zollunion in der Türkei. Viele werden nun kalte Füße bekommen.

Das ist eine gefährliche Entwicklung für die Türkei, die mehr als jedes andere große Schwellenland auf den Zustrom ausländischen Kapitals angewiesen ist. Der Absturz der Lira in den vergangenen Wochen ist ein Gradmesser für den rapiden Vertrauensverlust der türkischen Volkswirtschaft. Erdogan könnte schon bald Gegenwind bekommen.

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