Verletzliches China Riesenreich der Widersprüche

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Chinesisches Biedermeier

Frank Wang Quelle: Eric Leleu für WirtschaftsWoche

III. Die stille Mitte

Begeistert von den Wanderarbeitern ist Hu Jingxian nicht. „Es sind zu viele, manche von ihnen arbeiten extrem hart, das erhöht den Druck auf uns“, sagt die 25-jährige Frau und gießt bedächtig Zitronentee in eine Tasse. Hu ist in der Altstadt von Shanghai aufgewachsen. Damals hatte die Stadt nicht einmal die Hälfte ihrer heute 23 Millionen Einwohner. Eine glückliche Kindheit, sagt sie, mit vielen Kindern, Nachbarn, die sich kannten und grüßten. Eine Welt, die es heute nicht mehr gibt.

Heute lebt sie in Baoshan, einem sterilen Außenbezirk Shanghais, eine Autostunde entfernt von ihrer alten Heimat. Von ihrem Küchenfenster fällt der Blick auf ein 20-stöckiges Hochhaus gegenüber. Es ist Freitagnachmittag, ihr Mann schläft mit dem Baby im Nebenzimmer. An der Wand hängt ein Hochzeitsfoto der beiden. Hu war 23 und gerade mit dem Studium fertig, als sie heirateten. Was folgte, ist typisch für ein junges chinesisches Paar aus der Mittelschicht: Die Eltern des Ehemanns kauften eine Wohnung, in die das Paar einzog. Sie bekamen ein Kind, ihr Sohn Naonao ist jetzt 20 Monate alt.

Hu und ihr Mann gehören zur neuen chinesischen Mittelschicht. Rund 300 Millionen Menschen verdienen heute in China zwischen 60.000 und 229.000 Yuan im Jahr. Bis 2022, schätzt die Unternehmensberatung McKinsey, wird diese Schicht auf 630 Millionen Menschen wachsen. Sie werden ins Ausland reisen, iPhones und deutsche Autos kaufen. Sie werden auch nicht materielle Bedürfnisse entwickeln.

Jahrelang galt China als die „Werkbank der Welt“ – Produkte made in China wurden in die ganze Welt exportiert – gefertigt von Wanderarbeitern mit Billiglöhnen. Heute ist China nicht mehr billig: Im Schnitt um zehn Prozent steigen die Löhne der Arbeiter pro Jahr. Allein über den Export kann das Wirtschaftswachstum nicht mehr kommen. Der Konsum aber liegt noch bei 36 Prozent des BIPs – zu wenig. Eine flächendeckende Kranken- und Rentenversicherung gibt es noch nicht. Deswegen sparen die Chinesen noch immer zu viel, um für Krankheit und Alter vorzusorgen, anstatt die Binnennachfrage zu steigern. Die Sparquote der chinesischen Haushalte liegt bei 30 Prozent, in den USA bei fünf.

12.000 Yuan, 1800 Euro, verdient Hu im Monat. Ihr Mann arbeitet nicht, hilft aber im Restaurant seiner Eltern. Die beiden haben ein Auto, einen Dongfeng-Renault. Den nächsten Urlaub wollen sie 2017 in Frankreich verbringen, wenn ihr Sohn in den Kindergarten kann. „Wir haben eigentlich alles“, sagt Hu. Vor ihr liegt ein iPhone 6 plus. Sie spart für die Ausbildung ihres Sohnes. Naonao soll in einen zweisprachigen Kindergarten gehen. Die Aufnahmegebühr beträgt 30.000 Yuan, jeden Monat kommen 1500 Yuan hinzu.

Hu und ihr Mann sind die staatstragende Schicht Chinas – ein chinesisches Biedermeier, das nicht aufbegehrt, sondern auf das persönliche Glück und Fortkommen konzentriert ist, das still ist und auf die gute Führung in Peking vertraut.

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Hu nennt Präsident Xi Jinping wie viele liebevoll „Xi Dada“, „Onkel Xi“. „Er redet nicht nur, er greift durch“, sagt sie. Xi Jinping ist es gelungen, sich selbst als Retter zu stilisieren. Für die Probleme im Land sind stets korrupte Lokalbeamte oder Kriminelle verantwortlich, nie die Regierung.

Die größte Sorge macht Hu die Umweltverschmutzung. An diesem Freitagnachmittag ist der ohnehin selten klare Shanghaier Himmel besonders trüb. 223 Mikrogramm der besonders gefährlichen pm2,5- Partikel pro Kubikmeter, sagen die Messstationen, „very unhealthy“. Auf einer deutschen Autobahn werden Spitzenwerte von 45 erreicht. Der Grenzwert der Weltgesundheitsorganisation liegt bei 25. Noch immer ist die Baubranche für fast ein Drittel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts verantwortlich. Das bedeutet Zement, Stahl und Energie, meist in der Form von Kohle, dominieren. Chinas Wirtschaft soll modern werden. Das klingt fortschrittlich, beinhaltet aber auch eine Drohung. Die bisherige Wachstumsgeschichte fußte auf einem sehr einfachen Prinzip: China stellte gute Rahmenbedingungen und günstiges Personal, und die Industrien des Westens steuerten Wissen bei, um gemeinsam gute Geschäfte zu machen.

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