Vor dem Flüchtlings-Referendum in Ungarn „Ablenkung von der Korruption“

Marta Pardavi von Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee in Budapest kritisiert das Anti-Flüchtlings-Referendum in Ungarn als Ablenkungsmanöver von Premier Viktor Orbán. Ausländer gelten als Bedrohung.

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Ungarns Regierung will die Verteilungsquote der EU ablehnen. Quelle: Reuters

Budapest Frau Pardavi, was sind die Gründe für das ungarische Referendum über die Verteilung der Flüchtlinge in der EU?
Es ist ziemlich klar, dass der ungarischen Premier und die gesamte Regierung seit dem Anschlag auf die französische Zeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 Migration zu einem allen beherrschenden Thema machen wollte. Seitdem gibt es keinen Tag, wo nicht dieses Thema die ungarischen Medien dominiert. Die ohnehin vorhandene Stimmung gegen die Migration hat die ungarische Regierung geschickt genutzt. Sie hat es verstanden, sich die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Das Referendum ist stark innenpolitisch motiviert.

Können Sie das bitte erklären?
Es geht auch darum die rechtsextremistische Partei Jobbik auf Distanz zu halten. Jobbik ist schließlich der gefährlichste Gegner für die Regierungspartei Fidesz.

Doch das ist nicht der einzige Grund für Premier Viktor Orbán, oder?

Mit den Flüchtlingsthemen werden die eigentlichen Probleme Ungarns überdeckt, die politisch unbequem und gefährlich sind. Es wird vor allem von der weit verbreiteten Korruption im Land abgelenkt. Es ist sogar mehr als Korruption. In Ungarn wurde eine Günstlingswirtschaft implementiert, zu dem hochrangige Politiker der Regierungspartei Fidesz in Beziehung stehen. Beispielsweise werden öffentliche Aufträge nach intransparenten Umständen an Personen vergeben, die der Partei nahestehen.

Aber die Bürger sind offenbar mit der derzeitigen Politik durchaus zufrieden. Schließlich wollen nach letzten Meinungsumfragen Zweidrittel der Ungarn dem Referendum zustimmen.
Nach dem Verlust der Zwei-Drittel-Mehrheit im ungarischen Parlament hat die Regierung mit dem Flüchtlingsthema ein neues Thema gefunden, von der durchaus weit verbreiteten Unzufriedenheit im Land abzulenken – wie die Proteste gegen die gescheiterte Internetsteuer beispielsweise gezeigt haben.

Wie viel Geld kostet die Volksabstimmung am Sonntag?
Nach unseren Erkenntnissen werden von der ungarischen Regierung für die Kampagne mehr als 32 Millionen Euro an Steuergeldern ausgegeben.

Ist die Werbeschlacht der ungarischen Regierung zum Plebiszit fair?
Die Botschaften der Regierung sind vereinfachend und irreführend. Eine wirkliche Informationskampagne müsste das Pro und Contra zum Thema Migration darstellen. Doch dafür ist kein Platz in Ungarn. Flüchtlinge und Ausländer werden als ständige Bedrohung der Sicherheit dargestellt.

Was passiert, wenn Ministerpräsident Orbán am Sonntag das von ihm gewollte Ergebnis erreicht?
Als Juristin stelle ich fest, das Referendum hat keine rechtlich verbindliche Wirkung. Es geht auch gar nicht um die Verteilung von annähernd 1300 Flüchtlingen im Fall Ungarns. Das Plebiszit ist wichtig für die Zukunft der Europäischen Union. Denn die ungarische Regierung versucht konsequent, den EU-Institutionen Befugnisse wegzunehmen.

Manche EU-Länder sind auf Ungarn nicht gut zu sprechen. Auf der einen Seite erhält das Land viele Milliarden an Subventionen aus Brüssel, auf der anderen Seite ist es in der Flüchtlingsfrage unsolidarisch. Sind sich die Menschen Ungarn bewusst, welches Image ihr Land in Westeuropa mittlerweile genießt?
Die meisten Ungarn sind sich des Images ihres Landes wahrscheinlich gar nicht bewusst. Im Gegenteil, viele Bürger glauben, Europa soll noch viel mehr Finanzhilfen geben.

Warum?
Die Regierung wird nicht müde zu betonen, dass es eigene Finanzmittel waren, mit denen die Zäune an der Grenze errichtet wurden. Ungarn sieht sich als Land, dass die Europäische Union vor dem Strom illegaler Flüchtlinge schützt. Es gibt sogar eine historische Debatte um die Eroberung Ungarns durch die Türken im 16. und 17. Jahrhundert.

Vielen Dank für das Gespräch.

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