
Kurz vor dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Türkei auf den Vorwurf unzureichender Grenzkontrolle reagiert. Die Regierung in Ankara erschwerte am Wochenende Irakern die Einreise. An der syrisch-türkischen Grenze warteten derweil weiter Zigtausende vergeblich auf Einlass.
Die Türkei will die Menschen, die vor den Kämpfen in der Provinz Aleppo geflüchtet sind, nun auf der syrischen Seite versorgen. Falls nötig, sollen sie auch ins Land gelassen werden, heißt es. Die Bedingungen dafür wurden aber nicht genannt.
Die Türkei stand zuletzt in der Kritik, weil sie nach Überzeugung Merkels und vieler Europäer bisher nicht genug getan hat, um die Überfahrt zahlreicher Flüchtlinge von ihrer Küste aus in den EU-Staat Griechenland zu stoppen. Die Kanzlerin trifft am Montag in Ankara Präsident Recep Tayyip Erdogan und Regierungschef Ahmet Davutoglu.
Merkel war erst Mitte Oktober in der Türkei gewesen. Die letzten Regierungskonsultationen liegen keine vier Wochen zurück. Der Türkei - seit Jahren in der EU für Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und der Pressefreiheit kritisiert - kommt eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingskrise zu. Es ist für Migranten und Flüchtlinge das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Mittel- und Nordeuropa.
Die Regierung in Ankara hatte Ende November unter anderem zugesagt, die Grenzen besser zu schützen. Im Gegenzug versprach die EU mindestens drei Milliarden Euro für die Versorgung der mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Zudem sollen die EU-Beitrittsverhandlungen und die Gespräche zur visafreien Einreise für Türken beschleunigt werden.
Nach Angaben von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) stellte die Türkei bei einem Ministertreffen in Amsterdam weitere Bemühungen zur Grenzsicherung in Aussicht. Sein türkischer Kollege Mevlüt Cavusoglu sagte in Amsterdam, schon jetzt kämen weniger Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland. Andere Informationen seien „Manipulationen in den Medien etlicher europäischer Hauptstädte“.
Im Winter gehen die Flüchtlingszahlen im Mittelmeer üblicherweise zurück. Im Frühjahr steigen sie wieder. Angesichts der auch jetzt hohen Flüchtlingszahl sehen die Länder Mittel- und Nordeuropas dringenden Handlungsbedarf. Vom Schengen-Staat Griechenland fordern europäische Partner mehr Anstrengungen bei der Grenzsicherung.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Mehrere Staaten drohten am Wochenende mit neuen Grenzschutzprojekten, um den Zustrom von Flüchtlingen über das südosteuropäische Land einzudämmen. „Wenn Griechenland nicht bereit oder nicht in der Lage ist, den Schengenraum zu schützen (...), dann brauchen wir eine andere Verteidigungslinie“, sagte der ungarische Außenminister Peter Szijjarto in Amsterdam.
Sein österreichischer Kollege Sebastian Kurz meinte: „Wenn wir keine Lösung an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland zustande bringen, dann wird unsere einzige Möglichkeit sein, dass wir mit Slowenien, mit Kroatien, mit Serbien, mit Mazedonien kooperieren.“
Einem Medienbericht zufolge fordert Wien zudem 600 Millionen Euro von der EU für die Kosten der Flüchtlingskrise. Die Summe solle bei der Berechnung des zulässigen Budgetdefizits nicht angerechnet werden, wie der „Kurier“ aus einem Brief des Finanzministers Hans Jörg Schelling (ÖVP) an Kommissionschef Jean-Claude Juncker zitierte.
Der griechische Außenminister Nikos Kotzias hielt den mitteleuropäischen Staaten vor, sein Land isolieren zu wollen. Sein Land schütze die Seegrenze zur Türkei so gut, wie Meeresgrenzen zu schützen seien. In einem Interview der „Rheinischen Post“ (Montag) warf er der EU mangelnde Solidarität vor und fügte an: „Wir haben die EU aufgefordert, uns 2000 Beamte der Grenzschutzagentur Frontex und 100 Boote zu schicken, es kamen bislang nur 800 Beamte.“ In dem Land wächst zudem der Widerstand gegen den Bau von Aufnahmezentren für Flüchtlinge, den die Regierung in Athen der EU zugesagt hatte.
Die Flüchtlinge machen sich von Griechenland aus über die sogenannte Balkanroute auf den Weg nach Westeuropa. Doch weniger als die Hälfte habe Aussicht auf Schutz in der EU, berichtete die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS) unter Berufung auf einen Beamten der Kommission. Die Brüsseler Behörde wollte den Bericht auf Anfrage nicht kommentieren, verwies aber auf Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und des europäischen Statistikamtes Eurostat.
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
Laut Frontex sank der Anteil von Syrern und Bürgern anderer Staaten mit guten Chancen auf Asyl oder internationalen Schutz deutlich. Unter den Ankömmlingen in Griechenland machten Syrer im Dezember demnach 39 Prozent aus; im Oktober waren es noch 51 Prozent gewesen. Gleichzeitig stieg der Anteil irakischer Migranten von 11 Prozent im Oktober auf 25 Prozent im Dezember.
Der von der FAS zitierte Kommissionsbeamte sprach zudem von einem steigenden Anteil von Migranten aus den Maghreb-Staaten, die meist als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft werden. EU-Kommissar Johannes Hahn hatte am Samstag angesichts deutlicher Veränderungen bei der Zusammensetzung gewarnt: „Das ist eine neue zusätzliche Dimension, dass sozusagen im Windschatten der Flüchtlingskrise jetzt noch ein verstärkter Migrationsstrom eingesetzt hat.“
Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge erhalten fast in jedem Fall Schutz in EU-Ländern. Auch Iraker hatten laut Eurostat im dritten Quartal 2015 mit einer Anerkennungsquote von 87 Prozent gute Chancen.