Vorbild-Demenzdorf De Hogeweyk So gut kann Pflege sein – und das ohne Mehrkosten

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Die meisten Menschen sind unglücklich, Angehörige in ein Pflegeheim geben zu müssen. Zu oft sind die Zustände dort katastrophal. Doch es geht auch ganz anders, wie ein Beispiel aus den Niederlanden zeigt.

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Wer durch De Hogeweyk spaziert, fühlt sich gleich in eines dieser kleinen, niederländischen Dörfer versetzt: Backsteinhäuser reihen sich aneinander, es gibt ein Bistro, einen Supermarkt, ein Restaurant, ein Theater. Wenn das Wetter gut ist, versammeln sich die Bewohner auf dem kleinen Marktplatz, um ihre Gesichter in die Sonne zu halten.

Doch es gibt einen Unterschied zu einem normalen niederländischen Dorf: In De Hogeweyk gehen Menschen durch die Gassen, die das Pensionsalter oft lange hinter sich gelassen haben. Und wer den Dorfplatz länger beobachtet, der sieht, dass manche Menschen dort immer wieder vorbeikommen, im Kreis laufen, auf der Suche nach irgendetwas, ihrem Zuhause vielleicht.

De Hogeweyk, so viel sollte inzwischen klar geworden sein, ist kein normales Dorf. Es ist ein Pflegeheim für Demenzkranke, ein Vorzeigeprojekt, dass Delegationen aus der ganzen Welt nach Nordholland zieht. Wer in De Hogeweyk wohnt, der ist nicht einfach ein bisschen vergesslich, er leidet unter Demenz in fortgeschrittenem Stadium. „Unser Ziel ist, Menschen mit schwerer Demenz ein möglichst normales Leben zu bieten“, sagt Eloy Van Hal, der das Vorzeigedorf vor neun Jahren ins Leben rief.

In normalen Heimen sollen diese Menschen das Gelände oft nicht verlassen. Manchmal kommen sie tagelanglang kaum aus ihrem Zimmer heraus. Im Weesper Demenzdorf hingegen dürfen die Bewohner frei herumspazieren, die Türen stehen offen. Nur an der Tür, die das geschützte Dorf vom Rest der Welt trennt, wacht jederzeit ein Pförtner.

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Es ist schwer zu erheben, ob die Bewohner von De Hogeweyk wirklich glücklicher sind als ihre Leidensgenossen in normalen Pflegeheimen, schließlich können sie solche Fragen nicht mehr beantworten. Nach allen gängigen Standrads darf man aber davon ausgehen. Was das Musterdorf jedoch so richtig bemerkenswert macht, ist etwas anderes, weniger Menschliches: seine Finanzen. Trotz seines aufwändigen Konzepts ist De Hogeweyk nämlich nicht teurer als ein konventionelles Pflegeheim.

Dabei wird den Bewohnern des Demenzdorfes einiges geboten: Sie können nicht nur frei flanieren, sondern im Geschäft einkaufen gehen, sich beim Friseur die Haare richten lassen oder im Café ein Stück Kuchen essen. Jeden Tag steht eine lange Liste an Aktivitäten zur Auswahl, vom Museumsbesuch bis zum Töpferkurs.

Dass das weitaus günstiger ist, als es klingen mag, liegt zum Einen an der Selbstbeteiligung der Bewohner. Einen Kurs pro Monat dürfen die Bewohner umsonst besuchen. Für alle weiteren Aktivitäten muss er – oder eher: seine Angehörigen – jedoch zahlen. Auch Extras wie der Friseur kosten. Weiteres Geld spülen die Besuchergruppen aus der ganzen Welt in die Kassen, die mindestens 900 Euro zahlen müssen, um sich die Vorzüge des Demenzdorfes zeigen zu lassen.

Doch das allein würde De Hogeweyk noch nicht so effizient machen. Der Kern des Modells liegt in seiner radikalen Reduzierung. Die Bewohner können und müssen möglichst stark am normalen Leben teilhaben. Konkret bedeutet das, dass sie zwar in Einzelzimmern wohnen, die aber in kleinen Häusern zu Wohngemeinschaften zusammengeschlossen sind. In der Regel jeweils sieben Bewohner teilen sich ein Wohnzimmer – und eine Betreuerin.

Die übernimmt alle Aufgaben des Hauses: Sie wäscht die Wäsche und kocht das Essen, immer möglichst gemeinsam mit den Bewohnern. Vor dem Einkauf wird gemeinsam eine Liste geschrieben, den sie dann zusammen mit Bewohnern im Dorf-eigenen Supermarkt abarbeitet. Jedes Haus verfügt über ein Monatsbudget, von dem es diese Einkäufe bezahlt – und das nicht überschritten werden darf.

Die Häuser sind dabei in vier unterschiedlichen Stilrichtungen eingerichtet: traditionell niederländischen, kosmopolitisch, urban und gehoben klassisch. Entsprechend unterschieden sich auch das Essen oder sogar die Musikauswahl im CD-Regal. Die Bewohner werden nach ihren vorherigen Lebensumständen einer der Wohnformen zugeteilt. Auch die Aktivitäten unterscheiden sich je nach Typ: Während im eher einfachen, traditionell niederländischen Haus Bewohner häufig beim Wäschesortieren oder Gemüseschneiden beobachtet werden können, sieht man sie im gehobenen Haus eher eine schmucke Tafel decken.

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Egal, was genau sie tun, allen Wohnformen ist gemein, dass die Bewohner möglichst lange aktiv bleiben sollen, statt in ihren Betten vor sich hin zu vegetieren. Doch die praktischen Implikationen sind noch weitaus größer. Dadurch dass die Betreuerinnen alle Aufgaben übernehmen, spart sich De Hogeweyk Großküche und Wäscherei samt allen Angestellten. Auch ein großes Lager sucht man hier vergebens, da auch medizinischer Bedarf von Bewohnern und Betreuern im kleinen „Dorf-Supermarkt“ eingekauft wird.

Und es liegt nicht nur am gesparten Lager, dass auch im medizinischen Bereich die Ausgaben des Vorzeigedorfes weit unter dem liegen, was in konventionellen Pflegeheimen anfällt. „Wenn jemand hier ankommt, versuchen wir erst einmal, die Zahl seiner Medikamente drastisch zu reduzieren“. So kommt das Dorf mit einem Präsenz-Mediziner für 152 Bewohner aus. Auch die klassische Krankengymnastik wird in De Hogeweyk auf ein Minimum zurückgefahren. Während in konventionellen Pflegeheimen der Krankengymnast oft an das Bett des Patienten kommt und ihn darin liegend bewegt, sollen sich die Demenzkranken von De Hogeweyk selbst bewegen.

So wirken die „Alltags-Maßnahmen“ gleich mehrfach, die Spaziergänge, das gemeinsame Kochen und Wäschefalten. Nur wer darüber hinaus noch gezielte Unterstützung benötigt, geht zur Krankengymnastin – wohl bemerkt: geht dorthin. Laut Van Hal betrifft das aktuell gerade einmal sechs Bewohner.

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Wenn das Konzept aber so überlegen ist, wie kommt es dann, dass es nicht häufiger nachgeahmt wird? Van Hal seufzt, diese Frage hört er oft. Und sie ist gar nicht so leicht zu beantworten.
Die naheliegende Antwort, zumindest, wenn man Van Hal fragt, wäre, dass es den anderen an Mut mangelt. Das klingt nach Eigenlob, doch es steckt ein wahrer Kern dahinter. Pflegeheime wie De Hogeweyk sind im heutigen System nicht vorgesehen. Das gilt nicht nur für die Niederlande, sondern auch für Deutschland.

„Für innovative Versorgungskonzepte ist der ‚Markt‘ in Deutschland viel zu eng reguliert“, sagt Susanna Kochskämper, Pflegeexpertin am Wirtschaftsforschungsinstitut IW Köln. Pflege ist in Deutschland Ländersache und jedes Land hat seinen eigenen, sehr detaillierten Katalog darüber, welche Leistung in welchem Umfang abgerechnet werden darf. Freie Konzepte wie De Hogeweyk passen nicht in dieses enge Raster. Jens Ofiera vom Verband Deutscher Alten-und Behindertenhilfe bestätigt: „An so ein Modell würde sich hier keiner herantrauen.“

Auch in den Niederlanden muss Van Hal immer wieder um die Finanzierung ringen, auch hier ist der Katalog an einzuhaltenden Vorschriften lang. Das betrifft nicht nur einzelne Finanzierungsdetails, sondern vor allem auch Sicherheitsfragen.

De Hogeweyk ist unsicherer als andere Pflegeheime, zumindest nach gängigen Standards. Das ist die logische Kehrseite der größeren Freiheit: Wer frei und unbeaufsichtigt auf dem Gelände herumspaziert, kann sich verletzen. Doch De Hogeweyk geht noch weiter: In der Küche können Herd und Ofen von jedem bedient werden, die Messer liegen für jeden greifbar in der Schublade. Die Geländer der Balkone sind oft nur hüfthoch. In einem der Innenhöfe gibt es einen kleinen Teich, der nur durch ein niedriges Geländer vom Weg getrennt ist. „Wir haben kaum Sicherheitsvorkehrungen“, räumt Van Hal ein. Bislang sei aber auch noch nie etwas passiert.

Dennoch weiß Van Hal, dass er sich mit seinem Vorzeigedorf auf einem schmalen Grat bewegt. Regelmäßig schickt die staatliche Pflegeversicherung Kontrolleure, um zu überprüfen, was die Heime mit ihren Mitteln anstellen. In Amsterdam sei erst kürzlich ein Pflegeheim wegen zu niedriger Balkonabsperrungen geschlossen worden, sagt Van Hal: „Wir haben das reale Risiko, dass die Versicherungen dann unser Budget kürzen.“

Dabei sei diese ganze Sicherheitsdebatte fehlgeleitet, ist Van Hal überzeugt. „Menschen gehen ihr ganzes Leben lang Risiken ein, aber sobald sie ein Pflegeheim betreten, erwarten sie, dass es keine Risiken mehr gibt.“ Pflegeheimbetreiber wüssten um diese Erwartung und gäben vor, dass aus den Heimen jedes Risiko verbannt werde. „Aber das ist nicht möglich – auch nicht in einem konventionellen Pflegeheim.“

 

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