Vorbild-Demenzdorf De Hogeweyk So gut kann Pflege sein – und das ohne Mehrkosten

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Warum übernehmen nicht mehr Pflegeheime das Erfolgsmodell?

Egal, was genau sie tun, allen Wohnformen ist gemein, dass die Bewohner möglichst lange aktiv bleiben sollen, statt in ihren Betten vor sich hin zu vegetieren. Doch die praktischen Implikationen sind noch weitaus größer. Dadurch dass die Betreuerinnen alle Aufgaben übernehmen, spart sich De Hogeweyk Großküche und Wäscherei samt allen Angestellten. Auch ein großes Lager sucht man hier vergebens, da auch medizinischer Bedarf von Bewohnern und Betreuern im kleinen „Dorf-Supermarkt“ eingekauft wird.

Und es liegt nicht nur am gesparten Lager, dass auch im medizinischen Bereich die Ausgaben des Vorzeigedorfes weit unter dem liegen, was in konventionellen Pflegeheimen anfällt. „Wenn jemand hier ankommt, versuchen wir erst einmal, die Zahl seiner Medikamente drastisch zu reduzieren“. So kommt das Dorf mit einem Präsenz-Mediziner für 152 Bewohner aus. Auch die klassische Krankengymnastik wird in De Hogeweyk auf ein Minimum zurückgefahren. Während in konventionellen Pflegeheimen der Krankengymnast oft an das Bett des Patienten kommt und ihn darin liegend bewegt, sollen sich die Demenzkranken von De Hogeweyk selbst bewegen.

So wirken die „Alltags-Maßnahmen“ gleich mehrfach, die Spaziergänge, das gemeinsame Kochen und Wäschefalten. Nur wer darüber hinaus noch gezielte Unterstützung benötigt, geht zur Krankengymnastin – wohl bemerkt: geht dorthin. Laut Van Hal betrifft das aktuell gerade einmal sechs Bewohner.

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von Kristina Antonia Schäfer

Wenn das Konzept aber so überlegen ist, wie kommt es dann, dass es nicht häufiger nachgeahmt wird? Van Hal seufzt, diese Frage hört er oft. Und sie ist gar nicht so leicht zu beantworten.
Die naheliegende Antwort, zumindest, wenn man Van Hal fragt, wäre, dass es den anderen an Mut mangelt. Das klingt nach Eigenlob, doch es steckt ein wahrer Kern dahinter. Pflegeheime wie De Hogeweyk sind im heutigen System nicht vorgesehen. Das gilt nicht nur für die Niederlande, sondern auch für Deutschland.

„Für innovative Versorgungskonzepte ist der ‚Markt‘ in Deutschland viel zu eng reguliert“, sagt Susanna Kochskämper, Pflegeexpertin am Wirtschaftsforschungsinstitut IW Köln. Pflege ist in Deutschland Ländersache und jedes Land hat seinen eigenen, sehr detaillierten Katalog darüber, welche Leistung in welchem Umfang abgerechnet werden darf. Freie Konzepte wie De Hogeweyk passen nicht in dieses enge Raster. Jens Ofiera vom Verband Deutscher Alten-und Behindertenhilfe bestätigt: „An so ein Modell würde sich hier keiner herantrauen.“

Auch in den Niederlanden muss Van Hal immer wieder um die Finanzierung ringen, auch hier ist der Katalog an einzuhaltenden Vorschriften lang. Das betrifft nicht nur einzelne Finanzierungsdetails, sondern vor allem auch Sicherheitsfragen.

De Hogeweyk ist unsicherer als andere Pflegeheime, zumindest nach gängigen Standards. Das ist die logische Kehrseite der größeren Freiheit: Wer frei und unbeaufsichtigt auf dem Gelände herumspaziert, kann sich verletzen. Doch De Hogeweyk geht noch weiter: In der Küche können Herd und Ofen von jedem bedient werden, die Messer liegen für jeden greifbar in der Schublade. Die Geländer der Balkone sind oft nur hüfthoch. In einem der Innenhöfe gibt es einen kleinen Teich, der nur durch ein niedriges Geländer vom Weg getrennt ist. „Wir haben kaum Sicherheitsvorkehrungen“, räumt Van Hal ein. Bislang sei aber auch noch nie etwas passiert.

Dennoch weiß Van Hal, dass er sich mit seinem Vorzeigedorf auf einem schmalen Grat bewegt. Regelmäßig schickt die staatliche Pflegeversicherung Kontrolleure, um zu überprüfen, was die Heime mit ihren Mitteln anstellen. In Amsterdam sei erst kürzlich ein Pflegeheim wegen zu niedriger Balkonabsperrungen geschlossen worden, sagt Van Hal: „Wir haben das reale Risiko, dass die Versicherungen dann unser Budget kürzen.“

Dabei sei diese ganze Sicherheitsdebatte fehlgeleitet, ist Van Hal überzeugt. „Menschen gehen ihr ganzes Leben lang Risiken ein, aber sobald sie ein Pflegeheim betreten, erwarten sie, dass es keine Risiken mehr gibt.“ Pflegeheimbetreiber wüssten um diese Erwartung und gäben vor, dass aus den Heimen jedes Risiko verbannt werde. „Aber das ist nicht möglich – auch nicht in einem konventionellen Pflegeheim.“

 

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