Währungsverfall Türkei gerät vor Wahlen zunehmend wirtschaftlich unter Druck

In der Türkei wächst für viele Menschen die wirtschaftliche Not. Die abstürzende Lira wird auch die kommenden Wahlen beeinflussen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Erdogan macht internationale Verschwörungen gegen die Türkei für die Wirtschaftsprobleme verantwortlich. Quelle: Bloomberg

Yavuzlar Landwirt Abdulkadir Cekic hatte bereits große Schwierigkeiten, den Kredit für die 130.000 Euro teure Erntemaschine zu bedienen. Mit dem Absturz der türkischen Währung hat sich die Situation für ihn dramatisch verschärft. „Dieses Jahr muss ich 10.000 Euro Raten für den Mähdrescher bezahlen. „Das waren rund 40.000 Türkische Lira. Jetzt sind es 55.000 Türkische Lira“, sagt Cekic, der in einem Dorf nahe der Grenze zu Syrien lebt.

Seit Jahresbeginn hat die Lira mehr als 20 Prozent an Wert im Vergleich zum Dollar verloren. Das trifft besonders kleine Unternehmer wie Cekic, die von importieren Maschinen und anderen Gütern abhängig sind. Die Wirtschaftsprobleme der Türkei sind mittlerweile eines der Schlüsselthemen bei der auf den nächsten Monat vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahl (24. Juni) geworden.

Vergangene Woche fiel die Währung tiefer und tiefer – was einerseits zwar mit einem generellen Trend an den Finanzmärkten zusammenhängt. Andererseits aber auch Ausdruck der Sorge über die Wirtschaftspolitik von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist.

Die türkische Zentralbank musste schließlich einschreiten und den Leitzins scharf erhöhen, um einen Abfluss des Kapitals ins Ausland zu verhindern, die Inflation unter Kontrolle zu behalten und die unter Druck geratene Währung zu stützen. Mit der Zinserhöhung setzte sie sich über Erdogan hinweg, der gefordert hatte, die Zinsen niedrig zu lassen. Ob die Zinserhöhung ausreicht, um die Währung wieder auf sicheren Boden zu bringen, wird jedoch bezweifelt.

Erdogan ist gegen hohe Zinsen, weil diese das Wirtschaftswachstum bremsen können. Analysten sagen, der Präsident habe die Wahlen um mehr als ein Jahr vorgezogen, weil er gewusst habe, dass sich wirtschaftliche Probleme zusammenbrauen würden. Erdogan ist seit 2003 als Ministerpräsident und Präsident im Amt und strebt eine neue fünfjährige Amtsperiode an.

Das Risiko sei noch nicht gebannt, weil der Markt weiter in Bewegung sei, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Özlem Derici Sengül. Es herrsche zudem Nervosität, weil Erdogan seinen Einfluss auf die Zentralbank nutze. Die Zinsen der Banken lägen noch immer unter den marktüblichen Zinsen.

Sengül rechnet mit Auswirkungen der Finanzprobleme auf die Wahl. „Aber ich bin nicht sicher, inwieweit sie die Zusammensetzung des Parlaments beeinflussen werden oder ob sie einen Einfluss auf die Wiederwahl des Präsidenten haben“, sagt sie. „Es ist eine sehr knappe Sache.“

Erdogan macht internationale Verschwörungen gegen die Türkei für die Wirtschaftsprobleme verantwortlich. Die schwache Lira spiegele nicht den Zustand der türkischen Wirtschaft wider, sagte er vergangene Woche und verwies auf die Wachstumsrate von 7,4 Prozent. Um Bedenken zu lindern, kündigte er jedoch für die Zeit nach der Wahl Finanzdisziplin an sowie weitere Schritte, die Inflation zu bremsen.

Die boomende Wirtschaft hatte Erdogan in den vergangenen 15 Jahren seine Wahlsiege beschert. Zuletzt schlug er jedoch einen zunehmend autoritären Kurs ein, ging verschärft gegen Kritiker vor. Seit dem gescheiterten Militärputsch 2016 herrscht Ausnahmezustand – er regiert per Dekret, Zehntausende Menschen wurden inhaftiert. Kritiker sagen, Erdogan müsse sich von der autoritären Politik abwenden und liberale Reformen zulassen, um die Wirtschaft wieder zu stabilisieren.

In einer Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Metropoll vom April gaben 50,6 Prozent der Befragten an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im vergangenen Jahr verschlechtert habe. Nur 16,6 Prozent sagten, die Umstände hätten sich gebessert.

Erdogan wuchs im Istanbuler Stadtviertel Kasimpasa auf. Die Menschen auf einem Markt dort sagen, dass sie die Folgen des Währungsverfalls und der zweistelligen Inflation zu spüren bekämen. „Die Preise sind hoch“, sagt Medine Bilgen, eine 53 Jahre alte Hausfrau. „Jede Woche sind die Preise auf dem Markt anders. Sie gehen niemals runter. Immer nur hoch.“ Gemüsehändler Ahmet Acik sagt: „Diesel, Gas, Dollar ... das ändert sich ständig. Damit sind wir nicht glücklich.“

Aber auch Soner Cagaptay, Direktor des Türkei-Forschungsprogramms am Washington Institute glaubt nicht, dass die Wirtschaftslage tiefgreifende Folgen für die Wahl haben wird. „Die Türkei ist so tief gespalten. Die eine Hälfte liebt Erdogan und glaubt, dass er nichts Falsches tun kann. Die andere Hälfte mag ihn nicht.“ Eine Wirtschaftskrise werde diese Wahrnehmung nicht ändern.

„Erdogans Anhänger werden jeden Wirtschaftscrash als einen Angriff ausländischer Kräfte gegen Erdogan sehen und seinen Plan, die Türkei wieder groß zu machen“, sagt Cagaptay. „Die Türkei hat zwar schon so viele wirtschaftlichen Zusammenbrüche erlebt, die Regierungen dahingerafft haben. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das dieses Mal wieder der Fall sein wird.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%