Wahrscheinlich, dass man dort dem Präsidenten empfahl, die Sache lieber jetzt noch schnell über die Bühne zu bringen, bevor die Misere bei den Wählern ankommt. Schnell verteilte man obendrein noch Wahlgeschenke – so bekam jeder Rentner noch rechtzeitig vor der Wahl eine Einmalzahlung in Höhe von 1000 Lira, knapp 180 Euro.
Dass eine harte Zeit bevorsteht, zeigt der rapide Verfall der türkischen Währung. Bekam man Anfang 2016 für einen Euro noch drei türkische Lira, sind es heute über fünf. Darunter leiden viele türkische Unternehmen, die in den letzten Jahren Kredite in Dollar und Euro aufgenommen haben. Deren Schuldenlast steigt – schon mussten einige Konzerne die Banken um eine Umschuldung bitten. Der Abwärtstrend der Lira beschleunigte sich in den Wochen vor der Wahl nochmals rapide. Nur eine Leitzinserhöhung der Zentralbank auf 17,75 Prozent konnte ihn vorübergehend bremsen.
Egal, wer die Wahlen gewinnt, er wird den inflationären Saustall aufräumen müssen. Nötig sind noch höhere Leitzinsen, und das birgt die Gefahr einer Inflation – gleichzeitig sind noch immer zehn Prozent aller Türken arbeitslos. „In den letzten beiden Jahren wurde das Wachstum künstlich aufgebläht“, sagt Necep Bagoglu von der Germany Trade & Invest (GTAI) in Istanbul. „Der Wahlgewinner muss das jetzt ausbaden.“
Was passiert bei der Türkei-Wahl am Sonntag?
Die Wahlen waren eigentlich erst für den November 2019 geplant, Erdogan ließ sie um fast eineinhalb Jahre vorziehen. Hintergrund dürfte gewesen sein, dass die Wirtschaft in immer schwereres Fahrwasser gerät und Erdogan sich bessere Chancen bei einer früheren Wahl ausrechnete. Allerdings ist die wirtschaftliche Lage jetzt schon prekär, die Inflation ist hoch, die Lira verliert an Wert.
Der Präsident steht zur Wahl, neben Erdogan bewerben sich fünf Kandidaten von fünf Oppositionsparteien um den Posten. Umfragen zufolge ist der aussichtsreichste Herausforderer Muharrem Ince von der größten Oppositionspartei CHP. Auch die neuerdings 600 Abgeordneten im Parlament werden gewählt, bislang waren es 550. Erdogans AKP will ihre absolute Mehrheit im Parlament halten.
Mit der Abstimmung wird die Einführung des im vergangenen Jahr per Verfassungsreferendum beschlossenen Präsidialsystems abgeschlossen. Das neue System geht auf Erdogan zurück, es ist sein wichtigstes politisches Projekt. Der künftige Präsident wird deutlich mächtiger als bislang, er wird zugleich Staats- und Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft. Die Opposition befürchtet im Fall eines Erdogan-Sieges eine „Ein-Mann-Herrschaft“.
Beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr - das Erdogans Lager gewann - prangerte die Opposition Wahlbetrug an. Bei der Wahl am Sonntag will die Opposition mehr als 600 000 Wahlbeobachter mobilisieren. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Parlamentarische Versammlung des Europarates entsenden eine kleinere Zahl internationaler Beobachter. Die türkische Regierung verweigerte zwei OSZE-Beobachtern die Einreise, darunter dem Linke-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko. Hunko kritisierte: „Offensichtlich will die Erdogan-Regierung bei diesen für sie äußerst wichtigen Wahlen freie Hand haben.“
Erdogan dürfte bei der Wahl am Sonntag die mit Abstand meisten Stimmen gewinnen, Umfragen zufolge ist aber nicht gesichert, dass er in der ersten Runde die absolute Mehrheit holt. Sollte er diese verfehlen, müsste er am 8. Juli in die Stichwahl.
Das Siegerimage Erdogans - der seit 16 Jahren keine Wahl verloren hat - wäre zumindest angekratzt, würde die Opposition ihn in die Stichwahl zwingen. Er müsste dann gegen den Zweitplatzierten antreten, aller Wahrscheinlichkeit nach Ince. Ince könnte auf die Unterstützung vieler Anhänger der Opposition zählen, die wenig eint - bis auf ihre ausgeprägte Abneigung gegenüber Erdogan. Selbst die pro-kurdische HDP - die der CHP zwar kritisch gegenübersteht, die AKP aber noch stärker ablehnt - hat eine Unterstützung Inces in der Stichwahl angekündigt. Dennoch ginge Erdogan auch in eine Stichwahl als Favorit.
Dann müsste Erdogan das Amt an ihn übergeben. Wie seine Anhänger darauf reagieren würden, ist ungewiss. Es wäre nach 16 Jahren Erdogan eine Zäsur für das Land. Ince will das Präsidialsystem wieder abschaffen und zum parlamentarischen System zurückkehren, wobei das weder einfach wäre noch schnell ginge: Dafür müsste erneut die Verfassung geändert werden. Ince hat ebenfalls angekündigt, den nach dem Putschversuch im Juli 2016 von Erdogan verhängten Ausnahmezustand wieder aufzuheben. Überraschenderweise hat das inzwischen auch Erdogan für den Fall seiner Wiederwahl versprochen.
Sollte die pro-kurdische HDP über die Zehn-Prozent-Hürde kommen, könnte Erdogans AKP die absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Das wäre für Erdogan - der zugleich AKP-Chef ist - ein Problem: Sein Präsidialsystem ist nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition im Parlament die Mehrheit hat. Er kann dann zwar per Dekret regieren, und das Parlament muss den Dekreten nicht zustimmen. Das Parlament kann aber Gesetze erlassen, die diese Dekrete wieder ungültig machen. Im schlimmsten Fall würden sich Präsident und Parlament gegenseitig blockieren, die Türkei wäre politisch gelämht.
Entweder könnte Erdogan versuchen, Kompromisse mit der Oppositionsmehrheit im Parlament zu finden - wobei Kompromissbereitschaft keine Eigenschaft ist, für die er bekannt ist. Theoretisch könnte der Präsident das Parlament auch jederzeit auflösen und Neuwahlen ausrufen. Sein Verbündeter, MHP-Chef Devlet Bahceli, hat eine solche Möglichkeit bereits angedeutet. Das hätte aus Erdogans Sicht allerdings einen großen Haken: Nach dem neuen System muss der Präsident sich dann auch wieder zur Wahl stellen.
Erdogan hat seit Jahren ein angespanntes Verhältnis zur EU. Im vergangenen Jahr gab es eine schwere Krise mit Deutschland, die immer noch nicht vollständig ausgeräumt ist: Weiterhin sind Deutsche in der Türkei nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes aus politischen Gründen inhaftiert. Ince hat angekündigt, den Streit mit Deutschland zu beenden, im (unwahrscheinlichen) Falle seines Wahlsieges die europäischen Hauptstädte zu besuchen und den EU-Beitrittsprozess des ewigen Kandidaten Türkei voranzutreiben.
Die Wahllokale öffnen um 07.00 Uhr (MESZ) und schließen um 16.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse werden noch am Abend erwartet. Bei früheren Wahlen stand der Sieger noch in der Nacht fest. 59,33 Millionen Stimmberechtigte dürfen wählen. Davon sind 3,05 Millionen im Ausland registriert, wovon wiederum die Türken in Deutschland mit 1,44 Millionen die größte Gruppe stellen. Im Ausland wurde bereits abgestimmt, dort endete die Wahl am Dienstag. An Grenzübergängen, Häfen und Flughäfen der Türkei können Auslandstürken aber noch bis zum Wahltag am Sonntag ihre Stimme abgeben.
Die zweite große Baustelle der türkischen Wirtschaft ist das Leistungsbilanzdefizit. Hohe Energieimporte vor allem aus Russland stehen zu geringen Exporten gegenüber. Deswegen ist das Land auf einen steten Zustrom von ausländischem Kapital angewiesen. Das aber kommt nur, wenn es der neuen Regierung gelingt, Vertrauen wiederherzustellen. Mit Erdogan an der Spitze ist das momentan kaum mehr vorstellbar. Noch im Mai polterte er auf einer Konferenz in London, die eigentlich dazu da war, bei internationalen Geldgebern für den Investitionsstandort Türkei zu werben, er werde im Fall eines Wahlsiegs, die Zentralbank stärker kontrollieren. Augenblicklich sackte die türkische Lira um mehrere Prozent nach unten.
Doch auch ohne einen Staatschef, der sich in bizarrer Umdrehung ökonomischer Fakten wiederholt dafür ausgesprochen hat, die Zinsen zu senken, um die Inflation zu bekämpfen, wird eine Trendumkehr schwierig. Die Zinswende in den USA sorgt zusätzlich für einen Kapitalabfluss aus Schwellenländern wie der Türkei.
Sollte es dem hemdsärmeligen Ince tatsächlich gelingen, die Wahl am kommenden Sonntag zu gewinnen, er wird ein schweres Erbe antreten müssen.