WirtschaftsWoche: Rot-Rot-Grün ist in aller Munde. Wie wahrscheinlich ist die Konstellation nach der Bundestagswahl im Herbst?
Eckhard Jesse: Eher unwahrscheinlich. Zum einen wegen der arithmetischen Konstellation, auch wenn die SPD unter Martin Schulz zugelegt hat. Rot-Rot-Grün muss schließlich mehr Mandate erreichen als Union, FDP und AfD. Diese Annahme ist kühn, denn wenn Wähler wissen, dass diese Koalitionsvariante geplant ist, neigen einige von ihnen dazu, nicht für SPD und nicht für die Grünen zu votieren. Zum andern wegen der politischen Konstellation. Es gibt genügend Kräfte bei der SPD und bei den Grünen, die das aus prinzipiellen Gründen nicht wollen.
Zur Person
Eckhard Jesse ist Politikwissenschaftler, Parteienforscher und einer der führenden Extremismusexperten in Deutschland. Von 1993 bis 2014 hatte er den Lehrstuhl „Politische Systeme, Politische Institutionen“ an der Technischen Universität Chemnitz inne.
Schon 2005 und 2013 hätte es rot-rot-grüne Mehrheiten im Bundestag gegeben…
… die nicht umgesetzt wurde. Arithmetische Mehrheiten sind noch keine politischen Mehrheiten. Sollte die SPD wider Erwarten die stärkste Partei sein, so dürfte sie eher eine Große Koalition unter einem Kanzler Schulz anstreben als ein mit großen Risiken behaftetes rot-rot-grünes Bündnis.
Die Wirtschaft schlägt bereits Alarm. Wie wirtschaftsfeindlich wäre ein solches Bündnis?
Die Wirtschaft meldet Bedenken an, wie dies etwa an den Riesenanzeigen der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ zu sehen ist. Ein solches Bündnis ist in der Tat nicht im Interesse „der“ Wirtschaft. Allerdings würde vieles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Radikale Programmatik ist das eine, pragmatische Praxis das andere. Änderungen bei der Agenda 2010 stünden freilich an. Die Linke könnte ihre Wähler damit beruhigen, dass ihr als Juniorpartner in zentralen Fragen die Hände gebunden sind.
Ist die Linke denn bereit, in einer Bundesregierung Verantwortung zu übernehmen?
Eine rot-rot-grüne Koalition, entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt, würde eher an der SPD und oder an den Grünen scheitern. Aber selbst bei Teilen der Linken sind Vorbehalte vorhanden. Diese ließen sich wohl überwinden. Die Partei würde gern mitregieren. Insofern sind entsprechende Koalitionskonstellationen in Ländern als eine Art Probelauf wichtig – in Thüringen seit 2014, in Berlin seit 2016. Allerdings ist Bundespolitik noch etwas anderes. Ich nenne nur das Stichwort „Außenpolitik“. Hier sind die Differenzen zwischen den potenziellen Koalitionspartner besonders massiv.
Martin Schulz rückt die SPD nach links und will mit dem Thema „sozialer Gerechtigkeit“ punkten. Ist das eine sinnvolle Strategie?
Die Strategie ist prinzipiell sinnvoll, weil glaubwürdig. Der Markenkern der SPD muss wieder klar erkennbar sein. „Soziale Gerechtigkeit“ ist ja das ureigene Thema der Partei. Dadurch gewinnt sie Stimmen aus dem Nichtwählerlager, ebenso von der Linken und auch von der AfD. Ein Teil ihrer Wähler, der ja aus dem unteren sozialen Milieu stammt, wünscht sozialpopulistische Maßnahmen und ist kapitalismuskritisch.
"Angela Merkel wirkt ausgelaugt"
Wie nachhaltig ist der Aufschwung der SPD unter Schulz?
Keiner weiß, ob der Höhenflug der SPD unter Martin Schulz sich fortsetzt, anhält oder wieder einbricht. Die Partei, die schon resigniert hatte, fühlt sich momentan in der Offensive. Das zeigen etwa die erstaunlich vielen Parteieintritte in kürzester Zeit. Der Vorteil von Schulz: Er war nicht in die Regierungspolitik der Großen Koalition eingebunden. Sein Nachteil: Er ist ein Repräsentant der nicht sonderlich beliebten EU-Politik. Bisher hat Schulz noch kein innenpolitisches Profil gezeigt. Da wird die Konkurrenz ihn in die Enge zu treiben versuchen.
Linke und Grüne verlieren in den Umfragen, sie leiden unter dem Schulz-Effekt. Was müssen sie jetzt tun?
Linke müssen verdeutlichen, dass die Programmatik von Schulz auf dem richtigen Weg ist, aber noch nicht ausreichend die Interessen der „Abgehängten“ wahrnimmt. Die Grünen, deren Umfragewerte schon vor der Ausrufung von Schulz zum Kanzlerkandidaten zurückgegangen sind, haben es schwieriger, weil sie ja die Koalitionsoptionen offenhalten wollen. Sie dürfen die SPD nicht links überholen wollen. Das war 2013 ihr Kardinalfehler.
Die Kanzlerin wirkt angeschlagen und wie abgetaucht. Wie kann sie aus der Defensive rauskommen?
Angela Merkel wirkt etwas „ausgelaugt“. Das ist angesichts der vielfältigen innen- und außenpolitischen Probleme wahrlich kein Wunder. Und die Konkurrenz durch Martin Schulz hat sie überrascht. Sie muss verdeutlichen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern seit ihrer Kanzlerschaft 2005 eine auf Verlässlichkeit fußende Politik praktiziert hat und damit gut gefahren ist. Ein Vorteil ist ihr unprätentiöses Auftreten. Gleichwohl hat sie es 2017 schwerer als bei den drei Wahlen zuvor. Das war bei Helmut Kohl nicht anders. Jedoch spricht deutlich mehr dafür, dass sie es wieder schafft, die Union zur stärksten Partei zu führen, freilich nicht annährend mit einem Ergebnis wie 2013.
Die SPD und die K-Frage – ein Hang zur Sturzgeburt
... der SPD-Kanzlerkandidaten hat schon oft für besondere Geschichten gesorgt. Vier Beispiele.
1998 - GERHARD SCHRÖDER: Damals konkurrieren Schröder und Parteichef Oskar Lafontaine um die Spitzenkandidatur. Entschieden wird das Rennen am 1. März bei der Landtagswahl in Niedersachsen. Der kraftstrotzende Ministerpräsident Schröder hat angekündigt, in der K-Frage zurückzuziehen, wenn er mehr als zwei Prozentpunkte verliert. Schröder aber rockt die Wahl, holt für die SPD mit 47,9 Prozent ein Plus von 3,6 Prozentpunkten. Irgendwann klingelt in Hannover ein Telefon. Schröder geht ran, es ist Lafontaine: „Na, Kandidat“, soll der Saarländer zur Begrüßung gesagt haben. Lafontaine macht den Weg für Schröder frei, bildet mit ihm im Wahlkampf eine Doppelspitze.
Schröder schlägt Kohl und wird Kanzler. Doch die Freundschaft mit Oskar zerbricht. Im März 1999 schmeißt der gekränkte Finanzminister Lafontaine hin, wird später Chef der neuen Linkspartei. „Und so resultierte aus dem Dualismus der sozialdemokratischen Doppelspitze des Jahres 1998 die Spaltung der Linken sieben Jahre später“, schreibt der Göttinger Parteienforscher und SPD-Kenner Franz Walter für den „Spiegel“.
2009 - FRANK-WALTER STEINMEIER: Am 6. September 2008, einem Samstag ein Jahr vor der Wahl, sickert durch, dass Außenminister Steinmeier bei der K-Frage zugreift. Erst heißt es noch, das sei im besten Einvernehmen mit Parteichef Kurt Beck erfolgt. Doch am Tag darauf kommt es bei der Klausur der Spitzengenossen zum Putsch vom Schwielowsee. Der glücklose Pfälzer Beck schmeißt entnervt hin, spricht von Intrigen. Franz Müntefering kehrt an die Parteispitze zurück. Dem in Umfragen populären Steinmeier geht auf der Strecke die Luft aus. Gegen Angela Merkel hat er am Ende keine Chance, die SPD stürzt mit 23 Prozent auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis ab.
2013 - PEER STEINBRÜCK: Auch dieses Mal kommt es anders, als es sich die Parteispitze vorgenommen hat. Drei Kandidaten stehen zur Auswahl: Ex-Finanzminister Steinbrück, Parteichef Sigmar Gabriel und Steinmeier. Ende September 2012 macht Steinmeier, der sich eine erneute Kandidatur nicht antun will, beim Abendessen mit ein paar Journalisten seinen Verzicht deutlich. Das Drehbuch, die Verkündung möglichst bis zu Beginn des Wahljahres hinauszuzögern, ist im Eimer. Gabriel, der schon damals selbst nicht will, fliegt überstürzt aus München nach Berlin zurück, um Steinbrück in der Parteizentrale zu präsentieren. Die Kür ist verpatzt, es wird ein Pleiten-Pech-und-Pannen-Wahlkampf. Steinbrück und die SPD landen bei 25,7 Prozent. Gabriel führt die SPD per Mitgliederentscheid in die große Koalition.
2017 - MARTIN SCHULZ: Monatelang zaudert Gabriel, ob er selbst Angela Merkel herausfordern soll. Sein mieses Image in den Umfragen wirkt wie einbetoniert. Viele in der Partei stöhnen, mit dem unbeliebten Goslarer werde die SPD nichts reißen. Andere Spitzengenossen wollen Gabriel vor die Wand fahren lassen, um die Partei dann neu zu ordnen. Gabriel, der bereits länger an Rückzug denkt, will allein entscheiden. Er verdonnert die Führung zum Schweigen. Am 29. Januar soll das Rätsel um die K-Frage aufgeklärt werden. Der Zeitplan hält lange, die SPD zeigt sich diszipliniert.
Es kommt der 21. Januar. In Montabaur treffen sich Gabriel und Martin Schulz. Umfrage-Liebling Schulz denkt, er wird „nur“ Außenminister. Gabriel, der zum Wohl der SPD zurückziehen will, bietet ihm Parteivorsitz und Kandidatur an. Der Ex-EU-Politiker greift zu. Gabriel weiht den mit ihm befreundeten „Stern“-Chefredakteur Christian Krug ein. Weite Teile der SPD wissen von dem spektakulären Deal noch nichts. Gabriel will die Gremien am 24. Januar informieren. Daraus wird nichts - wieder gibt es eine Sturzgeburt. Eine halbe Stunde vor einer Fraktionssitzung wird im Internet das Titelbild des neuen „Sterns“ publik: „Der Rücktritt“.
Die Union ist wegen der Frage der Obergrenze weiterhin zerstritten. Kann die Partei so überhaupt im Wahlkampf bestehen?
Einerseits ist es nie von Vorteil, wenn ein politisches Lager zerstritten ist. Das mögen Bürger nicht, weil sie wissen wollen, wohin die Richtung geht. Ein Zick-Zack-Kurs schreckt ab. Allerdings ist die unterschiedliche Strategie in der Flüchtlingsfrage, die die Bevölkerung bewegt, vielleicht nicht nachteilig für die Union. Die CDU kann Wähler von der SPD und den Grünen gewinnen, und die CSU unter Horst Seehofer vermag potentielle Wähler der AfD an sich zu binden. Es ist schwer zu sagen, ob die unterschiedlichen Positionen in der Flüchtlingsfrage der Union nützen oder schaden. Sie muss die Parteibasis im Wahlkampf mobilisieren. Da ist die SPD gegenwärtig im Vorteil.