
WirtschaftsWoche: Herr Gudkow, Russlands Wirtschaft wächst kaum noch, der Kreml befördert offensichtlich den Krieg in der Ostukraine, der Westen setzt Moskau mit Sanktionen unter Druck. Stehen die Russen noch hinter ihrem Präsidenten Wladimir Putin?
Gudkow: Absolut. Laut unseren Umfragen sind momentan 81 Prozent der Russen mit der Arbeit des Präsidenten zufrieden. Eine solch hohe Unterstützung für Wladimir Putin würde überhaupt nur einmal übertroffen: während des Südossetien-Kriegs im August 2008, als Putin vorübergehend Regierungschef war. Allerdings ist die Beliebtheit des Kremlchefs anschließend fast kontinuierlich gesunken – bis zu den Olympischen Winterspielen im Februar dieses Jahres, als kaum mehr als ein Viertel der Russen hinter dem Präsidenten stand.
Geplante neue EU-Sanktionen gegen Russland
Wenn Firmen und milliardenschwere Oligarchen zur Destabilisierung der Ukraine beitragen, können sie auf eine schwarze Liste kommen.
Von Sanktionen betroffene Unternehmen dürfen keine Geschäfte mit EU-Firmen machen und können nicht mehr über Vermögenswerte in der EU verfügen. Anzahl und Namen der Unternehmen sind aber bisher offen.
Bis Ende Juli soll über eine erste Liste von Unternehmen entschieden werden, für die neuen Sanktionen gelten sollen.
Die Europäische Investitionsbank (EIB) soll die Unterzeichnung neuer Finanzierungsmaßnahmen in Russland aussetzen. Zudem wird die EU-Kommission aufgefordert, die Programme für die Zusammenarbeit mit Russland gegebenenfalls auszusetzen. Projekte aber, die auf die Zivilgesellschaft ausgerichtet seien, sollen aufrechterhalten werden.
Der EU-Gipfel vom 27. Juni hatte Russland aufgefordert, bis zum 30. Juni unter anderem für die Freilassung von OSZE-Geiseln zu sorgen und an Friedensverhandlungen teilzunehmen. Auf ausbleibende Fortschritte reagierte der EU-Ministerrat am 11. Juli mit elf weiteren Einreiseverboten und Kontensperrungen. Zudem wird als ein Grund für die Ausweitung eine mangelhafte Grenzkontrolle genannt.
Die EU und die Ukraine haben am 27. Juni ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen unterzeichnet. Es soll den EU-Markt für die Ukraine öffnen und zugleich demokratische Reformen im Land unterstützen. Außerdem hat die EU eine Zahlungsbilanzhilfe in Höhe von 1,6 Milliarden Euro zugesagt. In den nächsten Jahren sollen auch EU-Hilfsmaßnahmen mit einem Volumen von elf Milliarden Euro greifen.
Also führt die Ukraine-Krise dazu, dass die Russen fest hinter ihrem Präsidenten stehen. Können Sie das erklären?
Die Zustimmungsraten steigen nicht direkt wegen der Ukraine-Krise – sondern infolge der patriotischen Propaganda, die diese begleitet. Selbst zu Sowjetzeiten hat es nach meinem Erinnerungsvermögen nie eine so massive Propagandakampagne gegeben wie jene gegen die Ukraine: Man schafft mit selektiven Informationen, Teilwahrheiten, Emotionalisierungen, Lügen und Inszenierungen eine parallele Realität, wonach in der Ukraine vom Westen gesteuerte Faschisten am Werk sind, die einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führen und den Untergang Russlands wollen. Das funktioniert fantastisch effektiv und begründet mitunter die hohen Umfragewerte für Putin.





Wie ist das möglich?
In den vergangenen Jahren hat der russische Machtapparat die meisten Quellen alternativer Informationen dichtgemacht. Kritische Chefredakteure von Magazinen wie „Kommersant Wlast“ mussten gehen, die Nachrichtenagentur RIA Novosti bekam ein Kreml-Sprachrohr als Chef. Vor allem stehen sämtliche Fernsehkanäle entweder unter direkter staatlicher Kontrolle – oder ihre Besitzer sind staatstreue Oligarchen. Unabhängige Medien findet man allenfalls noch im Internet. Aber nur 20 Prozent der Russen beziehen ihre Informationen über die Ukraine-Krise aus dem Netz, 94 Prozent hingegen bekommen sie aus dem Fernsehen.
Sind die Russen so leicht manipulierbar?
In den meisten Ländern der ehemaligen Sowjetunion sind freiheitlich-demokratische Werte nicht weit verbreitet. Es herrscht ein absoluter Mangel an kritischem Denken. Was auch daran liegt, dass die meisten Russen ihre Heimat nie verlassen haben: Nur 18 Prozent besitzen einen Reisepass, weniger als zehn Prozent waren schon einmal im Westen. Davon ging es für die meisten nur in den Urlaub nach Ägypten oder in die Türkei. Die absolute Masse lebt unter depressiven Bedingungen in tristen Industriestädten oder abgelegenen Dörfern. Wenn man diesen Menschen erzählt, dass der Westen der Feind ist, dann glauben sie das. Zumal die aktuelle Propaganda auf uralte Mythen aus Sowjetzeiten trifft, sozusagen Ängste vor dem Faschismus weckt. Denn das Fernsehen berieselt die Russen nicht nur mit tendenziösen Nachrichten, sondern sendet rund um die Uhr Dokumentationen etwa zur angeblichen Kollaboration der Ukrainer mit den Nazis. So werden Erinnerungen an den Kampf gegen den Faschismus wach, der für die Identität der Russen immer besonders wichtig war.