Welthandelsorganisation Die WTO kämpft ums Überleben

Die Welthandelsorganisation war einst die mächtige Hüterin des Freihandels. Doch in protektionistischen Zeiten fühlt man sich nun an den Rand gedrängt - und sucht nach Verbündeten.

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Roberto Azevêdo

Roberto Azevêdo will ganz nah ran. Der Chef der Welthandelsorganisation (WTO) hat eine neonfarbene Schutzweste über seinen dunklen Anzug gestreift, dazu trägt er eine Schutzbrille aus Plastik. So stapft er zu den Triebwerken, die im Rolls-Royce-Werk in Dahlewitz gerade den Endschliff erhalten. Der oberste Vertreter jener Organisation, die den freien Handel schützen soll, kann hier Welthandel zum Anfassen erleben. In der Produktionshalle schrauben Mitarbeiter Triebwerke für den neuen Airbus A350 und Businessjets von Gulfstream zusammen. Sie kommen aus über 50 Nationen, die Teile aus Großbritannien, Singapur oder den USA. Das Werk ist ein Wunderwerk internationaler Arbeitsteilung.

Vielleicht strahlt Azevêdo deswegen so beim Rundgang. Denn was er hier sieht, ist nicht mehr selbstverständlich.

Wenn der WTO-Chef ohne Schutzweste im Berliner Politikbetrieb Bericht erstatten muss zur Lage des Freihandels, dann wird es mittlerweile gespenstisch still, wie beim Bericht über eine Katastrophenmeldung. Azevêdo muss etwa vom neuen US-Präsidenten Donald Trump berichten, der seine Organisation – 1995 maßgeblich auf Betreiben der USA ins Leben gerufen – ein „Desaster“ nennt und mit Austritt droht. Der über neue Zölle nachdenkt, über Abschottung. Und natürlich kommen die Gespräche auch auf all jene Populisten von rechts bis links, die Freihandel als Schimpfwort für Neoliberalismus und Ausbeutung ansehen. Selbst in Deutschland sind schließlich im vorigen Jahr Hunderttausende gegen das geplante TTIP-Abkommen auf die Straße gegangen.

Azevêdos Weltordnung droht gerade vor seinen Augen zu verfallen. Daher bereist er die Welt, um Verbündete zu suchen. Eine schwere Aufgabe.

Niemand weiß das besser als Karl Brauner, Vize-Chef der WTO. Der drahtige Mann mit strengem Seitenscheitel hält im Hauptquartier in Genf die Stellung, wenn sein Chef weltweit um Verbündete des Freihandels wirbt. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängt ein Ölgemälde, das fünf Katzen in menschlicher Haltung und Kleidung zeigt. Sie stehen um einen Tisch herum, auf dem eine Maus hockt. Die Katzen, meint Brauner, seien die Botschafter der fünf Kontinente. Und die Maus, das sei die WTO.

Irgendwie gefangen.

Nationen sind egoistisch

Denn Nationen sind egoistisch, sie kennen nur Interessen, keine Freunde. Sobald ein Land der WTO beitritt (164 Mitglieder zählt die Organisation mittlerweile), will es in den Genuss geregelter Weltmärkte kommen. Aber die eigenen Märkte entsprechend liberalisieren und öffnen? Das wollen viele schon weit weniger gern. Die WTO muss kontrollieren, dass sie es doch tun.

Brauner wacht als oberster Kassenwart über die Schiedskasse. 197 Millionen Schweizer Franken hat die Organisation jedes Jahr zur Verfügung, rund 650 Mitarbeiter kann sie sich davon leisten. Das weltweite Handelsvolumen, das die Organisation absichern soll, beläuft sich hingegen auf: 16 Billionen Dollar, pro Jahr.

Brauner, der früher die Außenwirtschaftsabteilung im Bundeswirtschaftsministerium leitete, liebt seine Aufgabe trotzdem. Ein bisschen sehen er und seine Kollegen sich auch als Lordsiegel-Bewahrer des Edlen und Guten, gerade in diesen Tagen.

„Mir gefällt es nicht, dass man einfach von Freihandel spricht“, sagt er. Das klinge zu sehr nach Freibeuterei, ohne Regeln. Er bevorzugt die alte Bezeichnung „Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge“. Brauner spricht die Namen aus wie eine Weltformel für friedliches Zusammenleben.

Schließlich geht es bei fairem Handel ja auch um Gerechtigkeit, um die Solidarität der Völker. Doch die zählt immer weniger, seit die globale Finanzkrise die Weltwirtschaftsordnung durcheinandergewirbelt hat. Danach ist der Welthandel nie wieder zu alter Stärke gekommen. Galten vorher weltweite Wachstumsraten von sieben Prozent pro Jahr als normal, ist es heute nur die Hälfte. Viele Regierungen verlegen sich auf Abschottung statt Offenheit, Trump ist dafür lediglich das prominenteste Beispiel.

Entsprechend lahmt die WTO. Seit Jahren ist ihr kein multilateraler Durchbruch mehr gelungen. Die sogenannte Doha-Runde 2001 war der bislang letzte Versuch, einen weltweiten Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen gemeinsam zu verhandeln.

Wie sollte das mit der neuen US-Regierung anders werden? Der Immobilientycoon Trump versteht Handel nämlich ganz anders als die idealistischen Technokraten aus Genf. Für ihn gibt es nur Gewinner oder Verlierer. Win-win? Kennt er nicht.

Dabei war die WTO bislang ein guter Deal für die USA. 80 Prozent der Entscheidungen über Handelsstreitigkeiten gingen zu ihren Gunsten aus, sagen Experten – zuletzt im Subventionsstreit zwischen Boeing und Airbus.

Doch der US-Präsident will sich nicht mehr auf Richter in einem Schweizer Ort verlassen, die er im Zweifel sowieso nicht kennt. Er möchte über bilaterale Deals die Verhandlungsmacht der USA gegen jene Länder ausspielen, die sich Hoffnung auf den Zugang zum US-Markt machen. Dafür braucht er die WTO nicht.

Trump und der Handel

Drohender Todesstoß für die WTO

Und das sorgt für Panik in der Genfer Zentrale. Dort sitzt ein hochrangiger Beamter im lichtdurchfluteten Innenhof mit Glasdach, seinen Namen will er nicht lesen, aber seine Sorge schon. „Ohne die Amerikaner lief bislang gar nichts. Wenden sie sich komplett ab, wäre das für die Welthandelsorganisation eine Katastrophe.“

Genau danach sieht es aus. Trump hat einige seiner Drohungen in Sachen Handel schon wahr gemacht. So ordnete er eine Prüfung für die Stahlindustrie auf Basis eines Gesetzes aus dem Jahr 1962 an. Untersucht werden soll, ob Stahlimporte die nationale Sicherheit beeinträchtigen. Dies könnte etwa für gepanzerte Schiffe gelten. Handelsminister Wilbur Ross plant ähnliche Schutzmaßnahmen für die Chipbranche, den Schiffsbau oder Aluminiumhersteller.

Damit könnte die US-Regierung weit über die Strafzölle hinausgehen, die sie für Grobbleche europäischer Hersteller angekündigt hat. Auch die Dillinger Hüttenwerke im Saarland und Salzgitter in Niedersachsen wären betroffen. Deutschen Autobauern drohte Trump unverhohlen mit Strafzöllen, sollten sie weiterhin Autos für den US-amerikanischen Markt in Mexiko produzieren.

Länder mit den meisten Streitfällen Grafik

Bislang haben die Deutschen sich all dies ruhig angehört. Sie wollten den Amerikanern erst einmal Zeit geben, sich zu sortieren. Doch macht Trump ernst, könnte sich alles in den hellen Konferenzräumen am Genfersee entscheiden, deswegen sind die Handels-Freaks um Brauner gerade so wichtig.

Das sogenannte Streitschlichtungsverfahren der WTO ist die letzte Instanz, um unfaire Einfuhrbeschränkungen aufzuheben. Und sie gilt als das schärfste Schwert der Genfer Behörde. Insgesamt hat sie seit Gründung 524 Streitfälle behandelt. In mehr als 90 Prozent der Fälle halten sich die Staaten an die Urteile.

Die Streitbeilegung ist die Erfolgsgeschichte der WTO, ein Sieg weniger Technokraten über die Weltenlenker. Vor dem Prozedere der Streitbeilegung zittern selbst Großmächte. Auch weil man sich die Regeln, wie WTO-Vize Brauner erklärt, wie eine Art ökonomisches Schiffeversenken vorstellen sollte. Es geht nämlich so: Hat eine Partei erfolgreich feststellen lassen, dass ihr Streitgegner Welthandelsregeln verletzt hat, erhält sie von der WTO das Plazet zum Gegenschlag. Sie kann Strafzölle einführen, die dem Wert der zu Unrecht erhobenen Strafzölle entsprechen. Diese müssen sich aber nicht auf die gleiche Produktgattung beziehen. Das lässt Raum für Kreativität – und für gezielte Nadelstiche.

Ein Beispiel: Als die USA laut WTO ungerechtfertigt Stahlzölle gegen Europa verhängten, durften die Europäer sich wehren – und suchten sich statt Stahlzöllen Empfindlicheres aus: Einfuhrtarife auf Motorräder der Marke Harley-Davidson. Die wurden in einem wichtigen Swing State im Präsidentschaftswahlkampf produziert. Prompt strich die damalige US-Regierung ihre Strafzölle wieder.

Voller Tatendrang

Ein scharfes Schwert also. Und vielleicht niemand denkt so laut darüber nach, es gegen Trump einzusetzen, wie eine Frau, die mit ihrer politischen Karriere schon so gut wie abgeschlossen hatte: Brigitte Zypries. Doch im Januar musste sie nach dem Abgang von Sigmar Gabriel plötzlich noch einmal als Bundeswirtschaftsministerin ran.

Nun wirkt Zypries wieder voller Tatendrang. Anfang Mai steht sie in Berlin vor Vertretern der deutschen Wirtschaft. „Wir wollen das Handelssystem unter dem Dach der WTO stärken“, ruft die SPD-Politikerin. Und die Botschaft will sie auch in der Höhle des Löwen verkünden, Ende Mai bricht Zypries in die USA auf. Vorher schärft sie ihr Argument in China.

Es klingt wie eine Drohung. Und so soll es auch klingen. Zypries hat den Europäern früh öffentlich geraten, notfalls vor die WTO zu ziehen. Die gelernte Juristin hat keine Angst vor juristischem Zoff.

Die Wirtschaftspolitik von Donald Trump könnte kurzfristig positive Effekte verbuchen. Langfristig aber birgt sie enorme Gefahren und könnte Verzerrungen an den Märkten weiter befeuern.

Und die WTO freut sich offen über die Rückendeckung aus Deutschland. „Ich erwarte von dem G20-Gipfel in Hamburg, dass wir intensiv darüber reden werden, wie wir das Regelsystem verbessern wollen“, sagt WTO-Chef Azevêdo. Deutschland müsse „ein Gespräch über Handelspolitik und das multilaterale System anstoßen“. Genf braucht Berlin, denn ein Treffen zwischen Azevêdo und Trump findet bis auf Weiteres nicht statt.

Könnte die kleine Organisation in Genf also mit deutscher Hilfe Trump stoppen?

Das wird schwer. Es fehlt ja nicht nur an Geld. Auch die Strukturen sind anfällig, selbst der hochgelobte Streitbeilegungsmechanismus. Problematisch ist etwa die Auswahl der Richter. Nach WTO-Regeln sind Richter aus Ländern ausgeschlossen, die an Streitfällen beteiligt sind.

Weil die USA und die Europäische Union aber jeden Fall auch als Drittpartei begleiten, dürfen sie keinen Richter stellen. Also kommen oft zweitrangige Juristen zum Zuge, die zudem noch schlecht bezahlt werden. Änderungen an den Prinzipien sind schon deshalb schwierig, weil sie Einstimmigkeit erfordern.

Wissenswertes zum internationalen Handel

Zypries weiß das, daher tüftelt sie an Alternativen. In einem Papier ihres Hauses an die EU-Kommission, das der WirtschaftsWoche vorliegt, kritisiert Berlin die „zaghaften multilateralen Fortschritte“. Es sei deshalb „wichtig, Handelsbarrieren auch mittels moderner, plurilateraler Abkommen oder bilateraler Freihandelsabkommen abzubauen“. Das Freihandelsabkommen Ceta mit Kanada könnte als Vorbild für künftige Deals dienen.

Es wäre womöglich ein Fortschritt. Aber es wäre auch ein System, in dem die WTO eher am Rande vorkommt.

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