Weltwirtschaft Russlands Furcht vor dem Weltmarkt

Bis Jahresende soll Russland der Welthandelsorganisation WTO beitreten. Doch im Land regt sich Widerstand – die Russen fürchten den Wettbewerb.

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Letzte Handgriffe. Ein Quelle: dpa

Manche Gespräche dauern etwas länger. Seit nunmehr 18 Jahren verhandeln Russland und die westlichen Industrienationen über den Beitritt der Russen zur Welthandelsorganisation (WTO). Wenn die Gespräche mal wieder stockten, machte Moskau stets Brüssel und Washington dafür verantwortlich. Tatsächlich gaben sich Europäische Union und die USA lange Zeit kompromisslos, was die marktwirtschaftliche Öffnung des potenziellen Neumitglieds angeht.

Doch in den vergangenen Wochen haben die Unterhändler in Brüssel, Washington und Moskau plötzlich Fortschritte gemacht: Russland hat den Abbau von Zöllen auf Holz und Fleisch zugesagt, die EU-Freihandelswächter wollenbei russischen Agrarsubventionen die Augen zudrücken. Einem WTO-Beitritt Russlands bis zum Jahresende stehe nichts mehr im Wege, betont EU-Kommissionschef José Manuel Barroso. Bereits im Oktober hatten die USA grünes Licht für eine Aufnahme Russlands in den Freihandelsklub gegeben.

Einseitige Struktur

Ob es so weit kommt, ist trotzdem nicht sicher. Ausgerechnet auf der Zielgeraden wachsen im Kreml die Bedenken. Dabei dürfte ein WTO-Beitritt die Modernisierung des in vielen Bereichen noch rückständigen Landes voranbringen. Die Finanzkrise hat schonungslos offengelegt, wie abhängig Russland von seinen Rohstoffexporten ist. Fallen die Preise für Öl, Gas, Stahl und Aluminium, sinkt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in dramatische Tiefen, Steuerausfälle reißen Haushaltslöcher, Kapital fließt ab. Außer Öl und Gas hat Russland eben nicht viel anzubieten, was der Weltmarkt braucht. Modernisierung bedeutet daher vor allem, die monostrukturierte Wirtschaft zu diversifizieren. Russland muss wettbewerbsfähige Industriekonzerne ins Rennen schicken – und das gelingt am besten, wenn sie den kalten Hauch des freien Wettbewerbs spüren.

In der Theorie hat die russische Führung dies auch erkannt. Russlands Präsident Dmitri Medwedew plädiertseit Monaten für einen raschen Beitritt. Zumal die Annahme der WTO-Prinzipien ausländische Investoren anlocken dürfte, die dringend benötigtes Know-how ins Land bringen. Die stoßen sich bislang an der hochregulierten und zuweilen protektionistischen Wirtschaftspolitik Russlands – und halten Investitionen zurück.Im vorigen Jahr, rechnete die Statistikbehörde Rosstat aus, sanken die ausländischen Direktinvestitionen gegenüber dem Krisenjahr 2009 um 13,2 Prozent auf 13,8 Milliarden US-Dollar.

Offiziell befürwortet auch Premierminister Wladimir Putin den baldigen WTO-Beitritt; dieser sei „vorteilhaft für Russland“, so der Premier jüngst bei einem Treffen mit EU-Kommissionschef Barroso. Dies freilich dürfte reine Rhetorik sein, widerspricht der Freihandel doch elementar Putins wirtschaftspolitischen Prinzipien. Demnach lässt sich die Wirtschaft am besten entwickeln, wenn sie von oben herab gesteuert wird – mit Subventionen, Zollschranken und über den Staatskonsum. Dies aber ist mit dem WTO-Kodex schwer in Einklang zu bringen.

Am Rockzipfel Putins hängen zudem die Lobbyisten mächtiger Großkonzerne, die hinter den Kulissen Front gegen den WTO-Beitritt machen. Maschinenbaukonzerne, Autohersteller und deren Zulieferer fürchten sich vor zu viel Wettbewerb. Wenn Zollschranken fallen, so ihre Angst, sind sie gegen produktivere und effizientere Wettbewerber aus dem Ausland selbst im Inland kaum konkurrenzfähig. Dazu zählen Autobauer wie Lada-Hersteller Awtowas, aber auch im Westen kaum bekannte Bau- und Landmaschinenhersteller, die im Grunde bis heute mit Sowjet-Anlagen produzieren.

Krise überstanden

Noch im Februar drehte Putin an den Schräubchen des Protektionismus: Autobauer, die in Russland Zollvorteile genießen möchten, müssen künftig 300 000 Autos im Land produzieren und 60 Prozent der Zuliefererteile aus russischer Produktion beziehen. Bisher lag die Grenze bei 150 000 Autos und einem Lokalisierungsgrad von 30 Prozent. Wer sich an die neuen Vorgaben des „Dekrets 166“ nicht hält, muss Zölle in Höhe von 30 Prozent auf jene Bauteile zahlen, die aus dem Ausland nach Russland exportiert werden.

Neuer Protektionismus

Die westeuropäische Automobilbranche reagierte darauf erwartungsgemäß verschnupft. Als Putin Ende Februar nach Brüssel zu Barroso reiste, hatte der Kommissionschef einen offenen Brief des EU-Wirtschaftsklubs Business Europe vorliegen, wonach die russischenImporthürden im Auto- und Landmaschinenbau bitte wegverhandelt werden mögen. Nach Berechnungen der Organisation drohen europäischen Unternehmen durch das Dekret jährlich Wettbewerbsnachteile in Höhe von 820 Millionen Dollar.

Indes, eine massive EU-Kritik an Putins neuen Zollhürden blieb aus. Nun müssen sich die Russen entscheiden, ob sie tatsächlich mehr Freihandel wagen wollen – oder an der postsowjetischen „Herrschaft mit Handsteuerung“ festhalten möchten.

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