Weltwirtschaftsforum Ein Marshallplan für die Ukraine?

In Anlehnung an die Rede, mit der 1948 der Marshallplan in Gang gesetzt wurde, hat der ukrainische Präsident Selenskyj hat die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos dazu aufgerufen, seinem Land bei der Finanzierung des Wiederaufbaus zu helfen. Quelle: imago images

Eine Gruppe von Forschern spricht sich in einem Bericht für einen baldigen und koordinierten Wiederaufbau der Ukraine aus. Einer der Autoren erklärt, was es damit auf sich hat.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat diese Woche in einer Live-Videoschalte die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos und die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen, seinem Land bei des Finanzierung des Wiederaufbaus unter die Arme zu greifen. Die Kosten hierfür übersteigen Schätzungen zufolge schon jetzt über 500 Milliarden US-Dollar.

In Anlehnung an die Rede, mit der 1948 der Marshallplan in Gang gesetzt wurde, mit dem die USA vier Jahre lang den Wiederaufbau Europas unterstützt haben, sagte Selenskyj, er wünsche sich einen Plan für sein Land, der so gestaltet sei, dass er „Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos“ entgegenwirke. Der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis lud daraufhin Staats- und Regierungschefs und Vertreter internationaler Organisationen aus aller Welt zu einer Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine ein, die Anfang Juli in Lugano abgehalten werden soll.

Anregungen für den Wiederaufbau liefern die Autoren eines Forschungsberichts, den kürzlich die Londoner Denkfabrik „Centre for Economic Policy Research“ (CEPR) herausgegeben hat. In ihrem Bericht „A Blueprint for the Reconstruction of Ukraine“ (Eine Blaupause für den Wiederaufbau der Ukraine) orientieren sich die Autoren ebenfalls an historischen Wiederaufbauprojekten. Darunter: Der Marshallplan, der Wiederaufbau Afghanistans und des Iraks, Wiederaufbauprojekte nach Naturkatastrophen – und die Deutsche Wiedervereinigung.

Ungewöhnlich ist dabei nicht nur, wie schnell dieser Forschungsbericht erschienen ist, an dem immerhin acht Autoren beteiligt waren. Auch der Umstand, dass der Wiederaufbau aus Sicht der Autoren schon vor dem Ende der Kampfhandlungen beginnen soll, erscheint zunächst kontraintuitiv.

„Wir haben versucht, aktuell, relevant und schnell zu sein“, sagt Simon Johnson, einer der Autoren. Johnson ist Professor für Wirtschaft am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. Von 2007 bis 2008 war er Chefvolkswirt beim Internationalen Währungsfonds. Gemeinsam mit seinen Kollegen und Kolleginnen – von denen drei russische und ukrainische Wurzeln haben – habe er versucht, „mehr Tiefe zu bieten als in einer Zeitungskolumne“, aber sich dabei nicht so viel Zeit zu lassen wie bei einer langwierigen Studie. Das Ziel: die „offiziellen und halboffiziellen Gespräche über den Wiederaufbau der Ukraine zu beschleunigen.“

Dazu, dass der Wiederaufbau so bald wie möglich beginnen solle, sagt Johnson: „Als wir den Bericht geschrieben haben, haben wir nicht an den Krieg und den Wiederaufbau als zwei unterschiedliche Ereignisse gedacht. Viele Menschen wollen in die Ukraine zurückkehren. Wohnungen, Brücken und Straßen müssen dafür wieder aufgebaut werden.“

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Die Ukraine müsse ihre Wirtschaft so bald wie möglich wieder aufbauen, um den Krieg überhaupt bewältigen zu können. „Ich würde sogar soweit gehen, dass das den Konflikt verkürzen könnte“, sagt Johnson. „Denn wenn Russland den Eindruck bekommt, dass es gewinnen könnte, wenn es den Krieg in die Länge zieht – weil man damit die Ressourcen der Ukraine und ihrer Verbündeten aufbraucht – dann hat Moskau einen Grund, den Konflikt fortzusetzen.“

Der Wiederaufbau solle in drei Phasen erfolgen, schreiben die Autoren in dem Bericht: Nach anfänglichen Notmaßnahmen sollten die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen wiederhergestellt werden, um die Grundfunktionen der Regierung und der Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen. Danach solle das Augenmerk auf ein „rasches und anhaltendes Wachstum“ gerichtet werden.

Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Gruppen in der Ukraine sprach sich kürzlich in einem Positionspapier dafür aus, den Wiederaufbau der Ukraine unter den Gesichtspunkten des Klimawandels und der Nachhaltigkeit zu organisieren. Simon Johnson stimmt zu: „Wenn die Infrastruktur zerstört worden ist, dann gibt es keinen Grund, warum man sie nicht besser neu errichten sollte.“ Die Ukraine könne auf diesem Weg auch ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland verringern.

Forderungen, die man in diesen Tagen aus vielen Richtung hört, wonach eingefrorene russische Vermögen im Ausland zur Finanzierung des Wiederaufbaus herangezogen werden sollten, findet man im CEPR-Bericht nicht. Simon Johnson unterstützt diese Forderung dennoch. „Warum sollte die Welt Russland seine Vermögenswerte im Ausland behalten lassen, wenn es andere Länder angreift?“

In seiner Rede vor dem Weltwirtschaftsforum sprach sich Präsident Selenskyj für ein Partnerschaftsmodell aus, bei dem einzelne Länder, Städte und Unternehmen die Zuständigkeit für spezifische Wiederaufbauprojekte übernehmen sollten. Johnson unterstützt diesen Ansatz: „Man kann damit vielleicht so etwas wie einen freundlichen Wettbewerb erzeugen.“ Einzelne Partner könnten dabei „eigene Vorschläge und Sichtweisen dazu einbringen“, wie man eine saubere Energieversorgung voranbringen könne, fügt er hinzu.

Als Vorlage für den Wiederaufbau der Ukraine haben sich die Autoren des Berichts auch die Deutsche Wiedervereinigung angeschaut. Die Löhne und Gehälter im Osten seien zu Beginn schnell auf rund 70 Prozent des Westniveaus geklettert. Der Anstieg sei dann aber zum Erliegen gekommen, und bis heute gebe es wesentliche Einkommensunterschiede. Aus Sicht der Autoren sind der überhöhte Wechselkurs zwischen Ost- und Westmark, „fehlende Arbeitsanreize“; eine zu geringe Einbindung Ostdeutscher in Entscheidungen und Mängel bei der Infrastruktur Schuld daran. Das alles, kann man wohl annehmen, gelte es in der Ukraine zu vermeiden.

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Bliebe die nicht unwichtige Frage, wie westliche Geldgeber sicherstellen können, dass die Gelder für den Wiederaufbau nicht in dunkle Kanäle geraten. Schließlich ist Korruption in der Ukraine ein schwerwiegendes Problem. „Es werden sich einige Dinge verändern müssen“, konstatiert Johnson. Die Ukraine müsse sich so organisieren, dass sie stärker Ländern wie Portugal, Spanien oder Frankreich ähnele. „So nebenbei war Korruption auch in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein sehr großes Problem, bis zum Beginn des Marshallplans“, wirft der Forscher ein. Korruption sei eben auch ein Merkmal von makroökonomischen Bedingungen.

Der Umstand, dass Russland wohl auch nach einem Ende des Krieges auf viele Jahre hin eine Bedrohung für die Ukraine bleiben dürfte, könne dabei helfen, in diesen Fragen ein Umdenken zu bewirken, fügt Johnson hinzu. „Denn wenn die Ukraine eine starke Wirtschaft hat, ein hohes Bruttoinlandsprodukt, eine stabile Währung und vielleicht sogar Teil der EU wird, wird es einfacher sein, sich zu verteidigen.“

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