Wende im syrischen Bürgerkrieg? „Die Lage in Aleppo ist apokalyptisch“

Aleppo steht vor dem Fall, die Rebellen kurz vor der Kapitulation. Bis zum Frühjahr wollen Damaskus und Moskau unumkehrbare Fakten schaffen. Während die Zivilisten durch die Hölle gehen, ist die Diplomatie ohnmächtig.

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TOPSHOT - Syrian pro-government forces manoeuver a tank in the newly retaken area of Sahat al-Melh and Qasr al-Adly in Aleppo's Old City on December 8, 2016. President Bashar al-Assad said victory for his forces in Aleppo would be a

Syriens Diktator Bashar al-Assad triumphiert. Die Rückeroberung Aleppos sei ein „großer Schritt“, um den mehr als fünfjährigen Bürgerkrieg zu beenden, jubelte er in einem Interview mit der Staatszeitung „Al-Watan“. Nach dieser Niederlage hätten die Opposition und ihre Unterstützer „keine Karten mehr in der Hand“. Bereits 80 Prozent des Rebellengebietes in der nordsyrischen Handelsmetropole haben Assads Truppen in den letzten drei Wochen zurückerobert, zuletzt auch die Altstadt am Fuße der Zitadelle.

Die Rebellen kontrollieren dagegen nur noch wenige Enklaven, ihre Einheiten befinden sich in chaotischer Auflösung und stehen kurz vor der Kapitulation. „Die Lage ist apokalyptisch“, erklärte ein Aktivist gegenüber CNN. Nach seinen Angaben drängen sich mittlerweile 200.000 Menschen in den noch verbliebenen Rebellenbezirken, weil sie fürchten, vom Regime festgenommen und gefoltert zu werden.

„Ich kenne Leute, die nichts getan haben in den letzten vier, fünf Jahren, die nur in ihren Wohnungen bleiben wollten und jetzt verhaftet werden“, sagte ein Lehrer der BBC. Nach Berichten von Augenzeugen durchkämmen syrische Truppen die zurückeroberten Stadtteile und führen reihenweise Männer im wehrfähigen Alter ab.

Etwa 30.000 Bewohner, die Hälfte von ihnen Kinder, konnten dagegen in den letzten beiden Wochen dem Inferno entkommen und sich im Westen Aleppos in Sicherheit bringen, entweder in den vom Regime oder den von Kurden kontrollierten Teilen. Die Überlebenden berichten von grauenhaften Zuständen. In den Straßenschluchten liegen die Leichen ganzer Familien, die mit ihren Koffern in den Händen vor den Bomben fliehen wollten. Komplette Häuserzeilen sind unbewohnbare Trümmerwüsten. Keines der Krankenhäuser in dem seit Mitte Juli umzingelten Osten ist noch intakt.

Verwundete liegen in den zerstörten Räumen, um die sich keiner mehr kümmert. Medikamente, Lebensmittel und selbst der Sprit für Krankenwagen sind aufgebraucht. „Wir sind total gelähmt und können niemanden mehr behandeln“, sagte einer der letzten noch verbliebenen Ärzte. „Die Leute sind verstört und in Panik, jeden Tag müssen Familien von einer Straße in die nächste fliehen“.


Damaskus und Moskau nutzen politisches Vakuum

Einen Waffenstillstand aber lehnt Assad kategorisch ab, während am Donnerstag in Hamburg der scheidende US-Außenminister John Kerry erneut mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow um eine Feuerpause rang – ohne Erfolg. „Die Terroristen sind überall präsent“, erklärte der Diktator. Selbst wenn man mit Aleppo fertig sei, gehe der Krieg weiter, bis „der Terrorismus eliminiert ist“. Und so nehmen das Regime und seine schiitischen Hilfstruppen aus Hisbollah und Iran-gesteuerten Milizen jetzt bereits Idlib ins Visier, die letzte Hochburg der Aufständischen im Norden und die zentrale Machtbasis der radikalen Al-Nusra-Front.

Seit Tagen wird diese Stadt, die überquillt mit Flüchtlingen aus anderen Landesteilen, schwer bombardiert. Denn Damaskus, Moskau und Teheran möchten das internationale politische Vakuum nutzen, was durch den Präsidentenwechsel in den USA und den Chefwechsel bei den Vereinten Nationen entstanden ist. Bis zum Frühjahr 2017 wollen sie auf dem syrischen Schlachtfeld unumkehrbare Fakten schaffen und die Rebellen als Streitmacht zerstören.

Gleichzeitig liegen sämtliche diplomatischen und politischen Initiativen auf Eis. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die eine einwöchige Feuerpause für Aleppo forderte, wurde Anfang der Woche von Russland und China per Veto blockiert – das sechste Syrien-Veto der beiden Pro-Assad-Mächte seit 2011. Im Gegenzug verurteilten die Staatschefs von USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Kanada das syrische Regime und seine russischen Verbündeten für die humanitäre Katastrophe, die „sich vor unseren Augen abspielt“.

Damaskus und Moskau würden jede humanitäre Hilfe blockieren und versuchten, mit ihren Angriffen auf Hospitäler und Schulen die Bevölkerung zu vernichten. „Die Weigerung des syrischen Regimes, sich an einem ernsthaften politischen Prozess zu beteiligen, zeigt auch die – entgegen ihrer Zusicherung – fehlende Bereitschaft Russlands und Irans für eine politische Lösung zu arbeiten“, heißt es in der Erklärung, die dem Uno-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, ausdrücklich das Vertrauen ausspricht.

Der Diplomat hatte Anfang Oktober sogar angeboten, die etwa 800 Kämpfer der Al-Nusra-Front persönlich aus Ost-Aleppo zu evakuieren, um die Zivilbevölkerung vor weiteren russischen und syrischen Massenbombardements zu bewahren. Doch das Regime in Damaskus ließ de Mistura eisern abblitzen.

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