Westminster-Palast Großbritannien bröckelt

Das britische Parlamentsgebäude ist einsturzgefährdet – ein Symbol für den Verfall Großbritanniens? Der Westminster-Palast muss gründlich saniert werden. Dass dies nach dem Brexit-Votum geschieht, gilt als positiv.

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Das altehrwürdige Symbol für Großbritanniens Demokratie zerbröselt: Der Putz fällt von der Decke, durch das Dach regnet es herein und die Kanalisation läuft regelmäßig über. Quelle: AP

London Das altehrwürdige Symbol für Großbritanniens Demokratie zerbröselt. Stück für Stück. Der Putz fällt von der Decke. Einmal hat ein Stuckbrocken schon fast einen Menschen erschlagen. Durch das Dach kommt Regen herein, der mit Eimern aufgefangen wird. Die Bodenfliesen lösen sich nach und nach. Teile der Fassade sind locker. Die Kanalisation läuft regelmäßig über. Mäuse und Ratten, Motten und Tauben haben sich in Teilen des Gebäudes eingenistet, das zudem wohl noch mit Asbest versucht ist.

Dem Palast von Westminister droht der Einsturz. Ein Ausschuss des britischen Parlaments hat daher in den vergangenen 14 Monaten beraten und diskutiert, wie man das verhindern könnte – und seine Vorschläge an diesem Donnerstag verkündet: Demnach sollen das britische Ober- und Unterhaus für mindestens sechs Jahre ausziehen, damit das Gebäude grundlegend saniert werden kann.

Allein notdürftige Reparaturen kosten jetzt schon etwa 100 Millionen Pfund jährlich. Die nun geplante Generalüberholung soll es für voraussichtlich vier Milliarden Pfund (umgerechnet 4,7 Milliarden Euro) geben. Das geht auf eine Schätzung der Beratungsgesellschaft Deloitte zurück und gilt als die wohl günstigste Option. Würden die Parlamentarier dagegen ihre Arbeit während des Umbaus im Palast von Westminister fortsetzen, könnten die Ausgaben auf bis zu sieben Milliarden Pfund steigen und würden sich über Jahrzehnte hinziehen. Das Parlament muss diesen Plan noch absegnen. Es wäre das erste Mal seit den Bombenangriffen auf London im Zweiten Weltkrieg, dass die britischen Abgeordneten ihren Arbeitsplatz verlagern müssten.

Eigentlich sollte die Sanierung bereits in der Zeit des ehemaligen Premierministers David Cameron in Angriff genommen werden, der nach dem Brexit-Referendum der Briten vor etwa zwei Monaten zurückgetreten ist. Dass seine Nachfolgerin Theresa May die Sache jetzt nach dem Brexit-Votum angeht, wird von einigen Kommentatoren als vorteilhaft angesehen: Die Sanierungsarbeiten würden mit Baumaterial, das in erster Linie aus Großbritannien stammt, umgesetzt – ein Vorhaben, das vor dem Brexit undenkbar gewesen wäre, schreibt die britische Tageszeitung „The Times“.

Das imposante Gebäude am Themse-Ufer mit Big Ben, der größten Glocke im Uhrturm von Westminster, ist zwar die Herzkammer der britischen Demokratie. Es ist aber nicht nur Respekt, die Briten dieser Institution entgegenbringen – es gibt auch viel Unmut. Nicht erst seit dem Brexit-Referendum, auch zuvor schon hat eine ganze Reihe von Skandalen – etwa um unverfrorene Spesenabrechnungen der Parlamentarier – Kritik ausgelöst.

Der britischen Historiker und Publizist Timothy Garden Ash forderte schon vor mehreren Jahren: „Umfassende Renovierungsarbeiten sind nicht nur am Gebäude erforderlich, sondern auch an unserem Parlament.“

Es sind auch die Traditionen und Rituale, die im Westminister-Palast bis heute gepflegt werden, die den Ruf nach einer Modernisierung haben laut werden lassen. Dazu gehört etwa das  jährliche Spektakel der Parlamentseröffnung. Die Königin nimmt dann im Oberhaus Platz und schickt „Black Rod“, ihren rabenschwarz gekleideten Boten, ins Unterhaus, um die Volksvertreter zu sich zu bitten. Auf dem Weg ins Unterhaus wird dem Boten die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mit seinem Ebenholzstab muss er drei Mal klopfen und um Einlass bitten. Zuletzt war er gut beraten, dabei nicht zu kräftig vorzugehen, um zu verhindern, dass noch mehr Putz von den Mauern des altehrwürdigen Gebäudes fällt.

Wenn die Abgeordneten in einigen Jahren umziehen, wird sich ihr neuer Weg zur Arbeit kaum verlängern. Das Unterhaus soll bisherigen Plänen zufolge in ein Gebäude einziehen, das zu Fuß etwa nur fünf Minuten Fußweg von Westminster entfernt ist; bisher wird es vom Gesundheitsministerium genutzt. Das Oberhaus soll vorübergehend auf die andere Straßenseite des Parlamentsgebäudes umsiedeln – in das Queen-Elizabeth-II-Konferenzzentrum. Das ist ein Betonklotz aus den 80er Jahren, das Leser des „Daily Telegraph“ schon mal auf die Liste der meistgehassten Gebäude des Landes gesetzt haben.

Ursprünglich war mal davon die Rede, die Parlamentarier nach Manchester, York oder Lancaster umziehen zu lassen – ins „Land hinaus, um dem Volk wieder näher zu sein“, wie einige Briten forderten. Doch daraus wird wohl nichts.

In seiner heutigen Form ist der Palast von Westminister nach einem Großbrand 1834 entstanden. Aus Kostengründen entschied man sich damals für billigeren Sandstein, der schon vor der Fertigstellung zu bröckeln begann und dafür sorgte, dass der zur Themse gelegene Teil des Gebäudes langsam absinkt. Erste Ausbesserungen haben schon damals begonnen. Und so ging es weiter – etwa als nach der Zerstörung durch die deutsche Luftwaffe Teile des Gebäudes wiederaufgebaut worden sind.

Doch die ewige Flickschusterei müsse ein Ende haben, heißt es in dem Report des parlamentarischen Ausschusses, das jetzt die Detailvorschläge für die Grundsanierung geliefert hat. Das Gebäude sei seit Mitte des 19. Jahrhundert nicht grundlegend renoviert worden, das könne zu einer Katastrophe führen, die man nicht mehr ignoriere könne. Es müsse dringend etwas getan werden. Ein paar Jahre werden sich die Politiker damit aber noch Zeit lassen. Die Sache müsse gründlich vorbereitet werden. Mit einem Umzug der Parlamentarier ist daher vor 2020 nicht zu rechnen.

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