Das dritte Paar ist (noch) kinderlos. Eine Journalistin in Ausbildung arbeitet auch spät nachts noch an ihren Beiträgen, weil sie von ihrem Job fasziniert ist. Ihr Freund, ein gut bezahlter Unternehmensberater, ist nicht von seinem Job, sondern von seinem Hobby, dem Klavierspielen, fasziniert. Ein Angebot, für drei Monate für ein Projekt nach Indien zu gehen, hat er gerade ausgeschlagen - zu anstrengend, zu wenig Freizeit.
Positiv über die eigene Arbeit hat sich bis auf die Radio-Journalistin niemand geäußert. Im Gegenteil - für die meisten stellte ihr Job die momentan größte Baustelle ihres Lebens vor; keiner meiner Freunde verdient weniger als 30.000 Euro im Jahr, manche sogar 80.000 Euro und mehr. Niemand prahlt damit, viel Geld zu verdienen. Für alle aber ist es von höchstem Wert, wenig zu arbeiten. Ein Job wird von ihnen danach bemessen, wie viel Persönlichkeitsentfaltung er ermöglicht, oder, wenn ersteres nicht der Fall ist, wie viel Zeit für Familie, Hobbys und Urlaub bleibt. Nur einer meiner Freunde arbeitet als Ingenieur bei einer großen Automobilfirma, schafft also tatsächlich die Werte, für die Deutschland in China verehrt wird. Alle kaufen ihre Lebensmittel größtenteils in Bio-Supermärkten und denken immer wieder darüber nach, ihren Fleischkonsum ganz aufzugeben, oder zumindest zu reduzieren.
Die zitierten Beispiele sind zunächst einmal mein ganz persönliches Umfeld. Ich bin ein Mittelschichtskind und so sind es die meisten meiner Freunde. Ich bin im Umland von München geboren, wo die Mittelschicht vielleicht noch ein wenig wohlhabender und gesättigter ist als in anderen Teilen Deutschlands. Mir ist bewusst, dass sich die allermeisten jungen Paare mit Kindern in Deutschland in weniger privilegierten Situationen befinden.
Von China aus betrachtet aber verschwimmen diese kleine Unterschiede. Der BIP pro Kopf in China liegt bei 3.350 US-Dollar im Jahr, das in Deutschland bei 37.000. Aus der Ferne erkennbar bleibt: junge, gesunde, intelligente und gut ausgebildete Eltern, deren Nachwuchs mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein erfülltes Leben vor sich hat. Aus der Ferne erkennbar bleibt auch: Arbeit ist zu einem kleinen, stetig nach Optimierung verlangenden Problembereich geworden. Sie ist entweder Vehikel zur Selbstverwirklichung (die spätnachts arbeitende Radio-Journalistin) oder zur tendenziell lästigen Funktion (bei nahezu alle anderen) geworden, um Miete und vor allem Urlaub zu bezahlen. Bewundert werden nicht die Vielarbeiter und Großverdiener, sondern die Selbstverwirklicher und Freizeitjongleure. Diese Haltung speist sich weniger aus Überzeugung als aus der Urerfahrung, dass Geld und materieller Wohlstand in der westdeutschen Mittelschicht schon immer vorhanden waren. Eine Erfahrung des Mangels kennen die wenigstens nach 1970 geborenen Deutschen. Fleisch und Gemüse standen bei uns jeden Tag auf dem Tisch. Wir stehen an der Spitze der Maslow-Pyramide und arbeiten Sisyphus gleich am nie vollendbaren Ziel der Selbstverwirklichung. Eine leichte Unterversorgung mit Krippenplätzen kann in dieser Komfort-Zone Katastrophenstimmung auslösen.