„Wirtschaftliche Mobilisierung“ So baut Putin Russlands Kriegswirtschaft auf

Viele russische Unternehmen werden in das Kriegsgeschehen involviert. Quelle: imago images

Im Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzt die russische Regierung neue Methoden: Sie lässt Unternehmen, die normalerweise Heimtextilien produzieren, ins Kriegsgeschäft einsteigen.

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Vor über 300 Tagen begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Wie lange es noch so weitergeht – das weiß wahrscheinlich nicht einmal Präsident Wladimir Putin selbst. Klar ist, dass Russland sich noch nicht auf ein baldiges Ende vorbereitet. Das zeigt unter anderem der Entwurf des Bundeshaushalts für 2023 bis 2025, in welchem Russland Rekordsummen für die nationale Verteidigung plant.

Kriege sind keine Selbstläufer und benötigen neben Geld vor allem Ausrüstung – und das am besten schnell. Zunehmend setzt Putin bei der Kriegsproduktion auf Weisungen von oben. Die russische Regierung hat vor einigen Wochen eine Strategie gefunden, um in Zeiten von Sanktionen und Krieg schnell an militärische Ausrüstung zu kommen: Sie lässt Unternehmen, die auf andere Waren spezialisiert sind, für ihre Zwecke produzieren. Schuhproduzenten sollen Stiefel für Soldaten fertigen. Autohersteller wie Kamaz für die Armee Panzer bauen. Kann Russland seine Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft umstellen?

Im Sommer wurde dazu eine Änderung in der Gesetzgebung über das öffentliche Beschaffungswesen vorgenommen. Seitdem kann die russische Regierung staatliche Aufträge an Unternehmen erteilen, die dann Produktionen für das Militär durchführen müssen. So können bestimmte benötigte Dinge schnell bestellt und hergestellt werden. Welche Wirtschaftssektoren sich am Ende in ein solches System eingliedern, lässt die Regierung bislang offen. In den vergangenen Monaten zeichnete sich allerdings ab, dass die Wende für manche Branchen bereits begonnen hat.

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Die Produktion in der Metall- und in der Bekleidungsindustrie nahm im Oktober jeweils um knapp 5 und 12 Prozent zu. Oleg Buklemishev, Direktor des Zentrums für wirtschaftspolitische Forschung an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Moskau, sieht einen Zusammenhang mit der Produktion für militärische Aktivitäten: „Rund 80 Prozent der in Russland produzierten Kleidung sind Spezialkleidung und Uniformen. Die Zunahme von Metallwaren dürfte auch mit militärischen Vorbereitungen zusammenhängen. Die Rüstungsunternehmen arbeiten jetzt im Vier-Schicht-Betrieb für staatliche Aufträge“.

Oft handelt es sich um mittelständische, lokale Unternehmen. So wie das Unternehmen Domwell, welches normalerweise Heimtextilien produziert. Jetzt werden Schlafsäcke, Regenmäntel, Masken und Sturmhauben hergestellt, wie das Unternehmen dem russischen Nachrichtenportal Kommersant mitteilte.

Neben der Produktion von Kleidung und Munition, seien auch Dienstleister wie Mediziner, Logistiker oder Programmierer bereits heute – wenn auch indirekt – ins Kriegsgeschehen involviert, beobachtet der Ökonom Ivan Ljubimov vom Wirtschaftsinstitut Gaydara in Moskau.

Bei anderen Bereichen hingegen könnte es noch Jahre dauern, bis die Produktion anläuft. „Für anspruchsvolle Technologien, die auch militärisch verwendet werden könnten, fehlt das Knowhow“, sagte Ljubimov dem Portal Meduza. Nach dem Abzug westlicher Unternehmen und den immer schärferen Sanktionen für Technikimporte, würden die Lager für Raketen- und Chipbauteile zunehmend leer. Schon heute fehlten der Kriegsindustrie Ersatzteile.

Um dem entgegenzutreten, setzte die Regierung lange auf Parallelimporte und alternative Lieferanten aus der Türkei und Zentralasien. Experten vermuten allerdings, dass die geringen Stückzahlen, die dabei erworben werden, in Zukunft nicht ausreichen. Jetzt könnte Kremls Ziel sein, durch die mobilisierte Wirtschaft zumindest die Militärproduktion am Laufen zu halten.

„Bei den Aufträgen geht es nicht um Wettbewerb, sondern um Verpflichtungen“, kommentiert Andrei Yakovlev, Ökonom am Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard University, gegenüber der WirtschaftsWoche. Es wurden nicht nur Sonderregelungen für die Preisgestaltung eingeführt, auch würden Unternehmen sich strafbar machen, wenn es zu Lieferverzögerungen, geschweige denn Absagen bei staatlichen Aufträgen kommt. Die Unternehmen werden nicht nur teilweise geringer bezahlt, sondern es werde auch ein starker Druck erzeugt, die Aufträge rechtzeitig durchzuführen. „Unternehmen müssen die Lieferfristen für Aufträge, die schon viel früher eingegangen sind, verschieben und Staatsaufträge bevorzugen“, sagt Yakovlev. Damit laufen viele Firmen Gefahr wirtschaftliche Probleme zu bekommen, denn der Eingang von weiteren, privaten Arbeitseinsätzen steht damit auf dem Spiel. Einige Unternehmen würden die Regierungsaufträge jedoch als eine „Ehre“ betrachten.

Yakovlev macht auch auf einen weiteren Punkt aufmerksam: Die am 21. September ausgerufene Mobilmachung der russischen Streitkräfte bringe den Umstand mit sich, dass Hunderttausende Mitarbeiter aus der Wirtschaft abgezogen wurden – nicht selten handele es sich dabei um Personen, die Schlüsselfunktionen in dem Unternehmen ausübten. Das führe zu Verhandlungen zwischen Unternehmen und den regionalen Regierungen, mit welchen sowohl die Rekrutierungsvorgaben in der Region gewährleistet werden sollen als auch Mitarbeiter erhalten bleiben, die von kritischer Bedeutung sind. „Dieses Modell der Beziehungen zwischen Unternehmen und Regierung erinnert auf traurige Weise an einen Feudalismus mit einer ‚Leibeigenschaft‘ hinsichtlich der Mitarbeiter“.
Unter diesem Verhandlungssystem leiden, so Yakovlev, vor allem mittelständische und kleine Unternehmen, da größere Unternehmen über mehr Mittel verfügen und für die Regionen eine wichtige Steuerquelle darstellen, was sie unabdingbarer macht.
Für die Planung und Umstrukturierung hin zu einer Kriegswirtschaft wurde im Oktober ein Koordinierungsrat gebildet, um den „Bedürfnissen der Streitkräfte der Russischen Föderation, anderer Truppen, militärischer Formationen und Körperschaften gerecht zu werden“.

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Zu den 19 Mitgliedern gehören unter anderem Premierminister Michail Mischustin, der Direktor des russischen Geheimdienstes FSB Alexander Bortnikov und Moskaus Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin. Bei der ersten Sitzung betonte Putin, dass das Land vor „ernsthaften Herausforderungen“ und die Wirtschaft unter „beispiellosen Beschränkungen“ stehe, die zusammen eine vollständige Überarbeitung der Mechanismen der Staatsführung erfordern.

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Von einer Planwirtschaft im sowjetischen Stil will aber niemand sprechen. Der Rektor der Russischen Hochschule der Präsidentenakademie, Wladimir Mau, schlug kürzlich in der Staatsduma vor, Szenarien einer „wirtschaftlichen Mobilisierung“ auszuarbeiten. Diese setze seiner Meinung nach auf die stärkere Rolle des Staates, einen bestimmten Arbeitsmarkt und die „Institutionalisierung von kleinen und mittleren Unternehmen“. Das Modell stehe nicht im Widerspruch zum Markt und bedeute keine Umstellung auf sowjetische Managementpraktiken, sagte Mau und verwies auf die Coronapandemie, in der die russische Regierung die Unternehmen durch Subventionen am Leben hielt und ihnen Aufgaben zuteilte, die sie erledigen mussten. „Die Pandemie war im Wesentlichen eine Generalprobe für den Krieg beim Übergang zur wirtschaftlichen Mobilisierung.“

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