Wirtschaftswachstum Schöner Schein in Spanien

Die spanische Wirtschaft ist im vergangenen Jahr mit 3,2 Prozent doppelt so stark gewachsen wie die anderen großen EU-Mitglieder. Doch das täuscht über zahlreiche Probleme der Wirtschaft hinweg, erklärt die OECD.

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Arbeitslose stehen Schlange vor einem Arbeitsamt in Alcala de Henares bei Madrid. Die Arbeitslosigkeit ist zwar zurückgegangen, doch noch immer sind 19 Prozent der Spanier ohne bezahlten Job. Quelle: dpa

Madrid Monat für Monat verkündet die spanische Regierung stolz sinkende Arbeitslosenzahlen. Vor wenigen Tagen erklärte Premier Mariano Rajoy, das Wachstum werde in diesem Jahr mindestens 2,5 Prozent betragen. Auch die OECD hat ihre Prognose am heutigen Dienstag auf diesen Wert angehoben, als sie in Madrid ihren aktuellen Spanien-Bericht vorstellte. Damit liegen die Erwartungen für das spanische Wirtschaftswachstum weiter weit über denen der EU.  Doch ganz so positiv wie es scheint, ist die spanische Bilanz nicht. Beim näheren Hinsehen offenbaren sich grundlegende Probleme in der Wirtschaftsstruktur, die dem Land wie ein Mühlstein um den Hals hängen.

So kommt die OECD zwar zu dem Schluss, dass Spanien ein robustes Wachstum aufweist und die in der Krise eingeleiteten Arbeitsmarktreformen bei der Erholung geholfen haben. Spanien „ist der Beweis, dass die Reformen funktionieren“, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurría heute im Beisein des spanischen Wirtschaftsministers Luís de Guindos. Aber jetzt sei es nötig „die Reformen zu reformieren“. Damit mehr Menschen vom aktuellen Wachstum profitieren können, muss laut OECD der Arbeitsmarkt besser organisiert und die Beschäftigten besser aus- beziehungsweise weitergebildet werden. Die Rezession hat viele Spanier abgehängt: Die Armut im Land ist gestiegen und die Schere zwischen arm und reich öffnet sich eklatant.

Es fehlen die nötigen Strukturen, um die 4,2 Millionen Arbeitslosen so umzuschulen, dass ihre Chancen steigen, einen Job zu finden. Zwar ist die Arbeitslosigkeit von 26 Prozent zum Höhepunkt der Krise auf aktuell 19 Prozent gesunken. Aber die überlasteten Arbeitsämter sind kaum in der Lage, adäquate Jobangebote zu machen.

Selbst 36 Prozent der Universitätsabsolventen finden keinen Job, fast die Hälfte aller Arbeitslosen ist schon länger als ein Jahr ohne Stelle. Viele Langzeitarbeitslose, aber auch ein Großteil der Bevölkerung, haben keine gute Ausbildung.

Spanien hat die höchste Schulabbrecherquote der EU – 20 Prozent der unter 25-Jährigen haben nur einen Haupt- oder Realschulabschluss und keine daran anschließende Ausbildung gemacht. Das liegt unter anderem daran, dass viele spanische Unternehmen auch ungelernte Kräfte einstellen – für einen niedrigen Lohn.

Entsprechend unproduktiv sind die Unternehmen. Spanien liegt gemessen an der Produktivität ganz hinten bei den OECD-Ländern, noch hinter Mexiko. In den Jahren 2008 bis 2015 haben die Unternehmen ihre Produktivität überhaupt nicht gesteigert. Die Ausgaben von Unternehmen und Staat in Forschung und Entwicklung liegen in Spanien weit unter dem EU-Durchschnitt. Das liegt auch an der geringen Unternehmensgröße: Die meisten spanischen Firmen haben weniger als zehn Mitarbeiter.

Naturgemäß investieren sie sowohl weniger in Forschung und Entwicklung als auch in die Aus- und Weiterbildung ihrer Handvoll Mitarbeiter. Die Regierung bietet Mikro-Unternehmen zahlreiche steuerliche Anreize. Überschreiten sie eine bestimmte Größe, entfallen diese Vorteile – deshalb ist das Interesse vieler Kleinunternehmen gering, das eigene Geschäft zu vergrößern.

Zudem sind ein Viertel aller Arbeitsverträge in Spanien nur zeitlich befristet. Sie sind schlechter bezahlt als unbefristete Verträge und motivieren weder die Angestellten, sich besonders anzustrengen, noch den Arbeitgeber, in die Weiterbildung dieser Kurzzeit-Mitarbeiter zu investieren.

Der fatale Mix aus desolatem Bildungsniveau, geringer Produktivität und fehlenden Innovationen wird sich in den kommenden Jahren rächen. Er macht es einem Land schwer, seine Wirtschaft in Richtung höherwertiger Branchen wie IT zu dirigieren. 

Spaniens Wachstum ist zu einem großen Teil von Tourismus getragen. Nach Angaben des Branchenverband World Travel and Tourism Council sind 16 Prozent der spanischen Wirtschaftsleistung direkt oder indirekt von der Urlaubsbranche abhängig. Vor allem im vergangenen Jahr hat die iberische Halbinsel davon profitiert, dass viele Reisende aus Angst vor Terrorattentaten Regionen wie Frankreich, die Türkei oder Nordafrika gemieden haben. Doch gerade die Jobs im Tourismus – Kellner, Zimmermädchen oder Küchenpersonal – gehören zu den schlecht bezahlten Stellen und zudem zu den saisonal befristeten Jobs.

Die OECD formuliert umständlich-diplomatisch, dass Spanien bislang nicht bei dem Versuch vorangekommen ist, die eigene Wirtschaft zu modernisieren: „Wie vorangegangene OECD-Berichte deutlich gemacht haben, ist die wichtigste mittelfristige wirtschaftliche Herausforderung, die Wirtschaftsleistung und das Wohlergehen des Einzelnen zu erhöhen, vor allem durch Steigerungen der Produktivität.“

Natürlich ist das Wachstumstempo Spaniens beachtlich. Und anders als etwa Portugal oder Italien haben die Spanier auch ihre Bankenbranche größtenteils saniert. Aber um für die Zukunft gerüstet zu sein und das hohe Armutsniveau sowie die horrende Arbeits- und Jugendarbeitslosigkeit zu senken bedarf es struktureller Reformen, die bisher weitgehend ausgeblieben sind. Die Jubelmeldungen von sinkenden Arbeitslosenzahlen oder steigender Wirtschaftsleistung sind deshalb mit Vorsicht zu genießen.

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