Wo Welten aufeinander prallen Kalifornien: Im Tal der Paradoxe

Ein einsamer Baum steht auf einem vom Waldbrand verkohlten Hügel nahe Healdsburg, Kalifornien. Quelle: AP

Während im Silicon Valley die Zukunft erfunden wird, leidet Kalifornien unter den Problemen der Gegenwart – von maroder Infrastruktur, Stromausfällen und Waldbränden bis hin zu unbezahlbarem Wohnraum.

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Am vergangenen Sonntag tat ich das, was ich oft mache, wenn ich am Wochenende keine Lust zum Arbeiten, Lesen oder Aufräumen habe. Ich setzte mich ins Auto und fuhr den Küstenhighway 1 hinab. Vorbei an Monterey und Carmel. Mein Ziel: Big Sur. Es ist eine der eindrucksvollsten Strecken der Welt. Sie lässt sich schwer beschreiben. Es ist, als ob man sich in einem unfassbar schönen Gemälde bewegt, das die Natur live malt und dabei den Pinselstrich ständig verändert. Der Wind weht, die Wellen tosen, plötzlich zieht Nebel auf.

Es ist ein erhebendes Gefühl, auf dem Aussichtspunkt hinter der Bixby-Brücke zu stehen und auf die zerklüfteten Felsen im Pazifik zu schauen. Oder auf der Rückfahrt in Asilomar zu stoppen, am Strand zu wandern und dabei die Seeanemonen zu bestaunen. Ich habe diesen Ausflug während meiner 20 Jahre als WirtschaftsWoche-Korrespondent in Kalifornien bereits hunderte Male gemacht und in Tausenden Fotos verewigt. Die Landschaft berührt mich jedes Mal aufs Neue.

Bei meiner jüngsten Fahrt hatte ich jedoch einen weiteren Grund, das Haus zu verlassen. Mein Energieversorger PG&E hatte den Strom abgeschaltet. Zwölf Stunden war er nun schon weg. Angeblich sollte es diesmal Tage dauern. In der Luft roch es nach Waldbrand, den das Abschalten der Energietrassen eigentlich verhindern sollte. Der örtliche Wasserversorger warnte, dass auch das Wasser knapp werden könnte, weil die Generatoren zum Pumpen nur begrenzt Kapazität hätten. Immerhin das Internet funktionierte noch. Eine schnelle Recherche versprach klare Luft, Sonnenschein und Strom in meinem Lieblingsrestaurant in Big Sur. Auf meiner Rückfahrt ergatterte ich in einem Supermarkt die vorletzte Mega-Packung Eiswürfel, um den abgeschalteten Kühlschrank daheim auf gute alte Art umzurüsten.

Raue Schönheit: Winterwolken hängen tief über der Küstenlinie von Big Sur. Quelle: AP

Kalifornien ist ein Paradies – landschaftlich. In der Silicon-Valley-Metropole San Jose scheint die Sonne an über 300 Tagen im Jahr. Eine Sonnenbrille ist hier ein Muss, sie schützt die Augen vor den Strahlen. Allerdings nicht vor den Problemen, die den Golden State plagen. Da stößt selbst die sprichwörtliche rosarote Brille an ihre Grenzen.

Kaliforniens Infrastruktur ist marode. Die Highways sind holprig und staugeplagt. Das Stromnetz ist notorisch instabil, der Grundwasserspiegel niedrig und mit Schwermetallen belastet. Mit einem Bruttogehalt von unter 100.000 Dollar im Jahr gilt man im Hightech-Tal und San Francisco schon als benachteiligt. So wie Lehrer, von denen einige täglich mehrere Stunden aus ihren Wohnorten im Hinterland anreisen. Facebook und Google zahlen ihren Praktikanten nicht grundlos 8000 Dollar im Monat und bieten kostenloses Essen für alle Mitarbeiter. Von dem Salär bleibt wenig übrig, besonders für Neuankömmlinge. In San Francisco liegt die Median-Miete für ein Einzimmer-Appartement bei 3600 Dollar. Wer sich das nicht leisten kann oder sparen will, dem offeriert das Start-up Podshare Doppelstockbetten in einem Loft für 1350 Dollar im Monat. Momentan ist alles ausgebucht.

In San Francisco verrichten die Obdachlosen ihre Notdurft auf dem Gehsteig. In Palo Alto und Mountain View leben Wohnungslose in Autos oder Wohnwagen am Straßenrand. Auf den Parkplätzen neben den Highways 101 oder 280 schlafen nachts Uber -und Lyft-Fahrer aus dem landwirtschaftlich geprägten Central Valley in ihren Autos, um in aller Frühe nach San Francisco fahren und dort auf den nächsten Auftrag per Smartphone lauern zu können.

Nichts geht mehr: Stau auf der San Francisco-Oakland Bay Bridge - trotz fünf Fahrspuren. Quelle: AP

Im Vergleich zu diesen extremen Lebensbedingungen erscheinen die Probleme in meinem Wohnort trivial. Dort nervt der stetige Strom von Autos, der sich morgens ab sieben Uhr durch die engen, kurvigen Straßen quält. Denn weil der Highway dann schon völlig verstopft ist, lotst Google Maps die Pendler durch die angrenzenden Orte. Auf dem sozialen Netzwerk Nextdoor wird schon diskutiert, ob sich nicht Barrikaden errichten ließen, indem die eigenen Autos strategisch ungünstig geparkt werden. Aber dann käme man ja auch selbst nicht mehr aus dem Haus.

Ich fühle mit den Pendlern und habe meinen Schlafrhythmus und meine Arbeitsplanung angepasst. Termine in San Francisco lege ich gern auf den Vormittag, fahre gegen 6 Uhr los, frühstücke im Starbucks, erledige meine E-Mails, treffe mich dann mit meinen Gesprächspartnern. Eine Stunde später loszufahren, bedeutet meist eine halbe bis eine Stunde Fahrzeit mehr. Dann versuche ich, vor 15 Uhr die Stadt zu verlassen. Wenn das nicht klappt, verschiebe ich die Abfahrt auf 19 Uhr.

Ewiges Leben statt Antibiotika

Im Silicon Valley und San Francisco wimmelt es vor Absurditäten. Hier wird die Zukunft des Verkehrs ersonnen – seien es autonome Autos, Flugtaxen oder Hyperloop – während der Verkehr vor der Haustür kurz vor dem Infarkt steht. In San Francisco auch deshalb, weil Fahrdienste wie Uber und Lyft die Stadt verstopfen. Der öffentliche Nahverkehr wird seit Jahren vernachlässigt.

Silicon-Valley-Hightech-Giganten wollen mittels ihrer Produkte Freiheit und Demokratie in die Welt tragen und brüsten sich gern damit. Aber nur, wenn es keine Marktanteile in China gefährdet.
Hunderte Millionen Dollar werden in die Suche nach dem ewigen Leben investiert, doch kaum etwas in die Entwicklung neuer Antibiotika. Auch wenn es viel wahrscheinlicher ist, dass eine Neuauflage der Spanischen Grippe weite Teile der Menschheit ausrottet, bevor das Bewusstsein für alle Ewigkeit in einen virtuellen oder extra gezüchteten Körper geladen wird.

Apple, Google und Facebook offerieren die digitalen Werkzeuge, mit denen sich angeblich von überall her arbeiten lässt. Die eigenen Mitarbeiter hingegen werden in immer größeren Bürokomplexen zusammengezogen und konzentriert. Google ist mittlerweile der größte Büro- und Landeigentümer im Silicon Valley. Jeder, der es sich leisten kann, zieht deshalb näher an den Arbeitsplatz, um seinen Anfahrtsweg zu verkürzen. Das treibt die Preise so stark, dass selbst das Gros der hochbezahlten Programmierer und Ingenieure sich kein eigenes Haus mehr leisten kann. Ein halbwegs anständiges Einfamilienhaus kostet in Palo Alto rund drei Millionen Dollar, bei einer traditionellen Hypothek sind 600.000 Dollar als Anzahlung nötig. Für eine junge Familie unerreichbar.

Die Immobilienkrise von 2006 war hier kaum spürbar. Wer vor 20 Jahren gekauft hat, kann sich glücklich preisen. Gerade Zugezogene haben es hingegen schwer.

Wer reich und gesund ist, kann in Kalifornien immer noch gut leben. Vor ein paar Tagen erzählte mir ein Bekannter stolz, dass ihm der Stromausfall nichts ausgemacht habe. Er hätte kürzlich die Solaranlage seines Hauses mit einem Akku aufgerüstet und diesen vor dem Abschalten des Stroms nochmal richtig aufgetankt. Kostenpunkt für das System: Etwa 5000 Dollar. Gut für ihn. Nach zwanzig Jahren Leben in den USA habe ich den deutschen Neid abgelegt – okay, fast vielleicht.

Aber der persönliche Komfort wohlhabender Einzelner ändert nichts daran, dass die Lebensbedingungen der Mehrheit sich weiter verschlechtern, sei es durch den Verkehrswahnsinn, die bedrohte Wasserversorgung, galoppierende Gesundheitskosten oder das marode Stromnetz. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass man sich in Kalifornien auch deshalb so stark mit der Zukunft beschäftigt, um so die Probleme der Gegenwart zu verdrängen.

Mix aus Hightech und Vorsintflut

Denn die Herausforderungen der Energieversorgung sind nicht neu. Im November 1998 – als ich gerade nach Kalifornien übergesiedelt war – saß ich mit meinem „Handelsblatt“-Kollegen Rudi Kulzer in einer Veranstaltung in San Francisco. Plötzlich fiel der Strom aus und blieb für Stunden weg. Zumindest hatte der Raum Fenster, so dass wir nicht in der Dunkelheit saßen. Wir amüsierten uns, weil der Referent ohne seine Powerpoint-Folien hilflos wirkte. Rudi, der schon seit Ende der Achtzigerjahre im Silicon Valley lebte, prophezeite mir: „An den Stromausfall wirst du dich gewöhnen müssen.“ Rudi ist kürzlich in München verstorben; er sollte recht behalten.

Die Mischung aus Hightech und überirdischen Stromleitungen ist heute ähnlich wie vor 21 Jahren. Nur der Zusammenbruch ist häufiger, weil die öffentlich finanzierte Infrastruktur mit dem Techboom nicht mithalten konnte.

Kalifornien gleicht Deutschland, weil auch hier gern Probleme in die Zukunft verschoben und durch Überregulierung verschärft werden. Nachdem es nach einer langen Dürreperiode in Strömen regnete und die Wasserrationierung aufgehoben werden konnte, redete kaum jemand über langfristige Lösungen. Sondern beschwerte sich, dass das Wasserwerk die Preise erhöhte, weil wegen des bewussteren Umgangs mit Wasser der Umsatz eingebrochen war.

Das ab ersten Januar alle Neubauten in Kalifornien mit Solaranlagen ausgerüstet werden müssen, ist fortschrittlich. Aber es verteuert dringend benötigte Häuser und macht sie für potentielle Käufer noch unerschwinglicher. Auch weil die meisten Banken die Finanzierung der Anlagen nicht in die Hypothek aufnehmen.

Was Kalifornien jedoch auszeichnet, ist ein unerschütterlicher Optimismus. Irgendwie geht es weiter. Und wer schon mal ein starkes Erdbeben mitgemacht und überstanden hat, wie das Loma-Prieta-Beben vor dreißig Jahren, hat ohnehin eine unaufgeregtere Sicht auf die Dinge.

Beim ersten Stromausfall im Oktober musste der örtliche Supermarkt-Betreiber zwar seinen Laden schließen, grillte stattdessen aber einfach Hotdogs auf dem Gasgrill und lud seine Kunden ein. Die wiederum untereinander Tipps austauschten, wie sich der Kühlschrank besser isolieren lässt.

Und da ist natürlich noch die atemberaubende Schönheit der Landschaft. Wenn nicht gerade ein Feuer tobt oder die Erde wackelt.

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