Wohin steuert Erdoğan? Der türkische Patient

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Erdoğans Amtsantritt veränderte die Position der Türkei

Mit dem Amtsantritt Erdoğans hat sich diese Position schlagartig verändert. Plötzlich verhandelte ein türkischer Ministerpräsident mit den scheinbar so mächtigen Europäern auf Augenhöhe, er drohte ihnen mit einer Abwendung nach Osten und er wusste es geschickt auszunutzen, dass die Türkei an der Schnittstelle zu den Krisengebieten des Nahen Ostens als verlässlicher Partner von ungeheurer Bedeutung sein könnte.

Der nächste Teil seiner Erfolgsgeschichte begann und die Folgen schwappten auch zum ersten Mal in die Mitte Europas, weil Erdoğan als erster Präsident auch das enorme Potential der in Europa lebenden Gastarbeiter zu nutzen wusste, indem er sie als Staatsbürger ernst nahm und ihnen fundamentale Recht wie das Auslandswahlrecht einräumte. Nicht zuletzt diesen außenpolitischen Umständen ist es zu verdanken, dass besonders die vielen in Europa lebenden Türken Erdoğan verehren wie einen neuen Heilsbringer und ihm zutrauen, auch im Kampf gegen die lange Jahre übermächtig scheinenden Mächte des Westens durchzuhalten und Paroli zu bieten.

Die Entwicklung der letzten Jahre gibt ihm dabei recht. Denn durch die Verschiebung der Macht- und Konfliktverhältnisse der Welt hat die Bedeutung der Türkei als Schwellenland zwischen den Kulturen gewonnen und auch der Versuch der deutschen Kanzlerin, Erdoğan als Schutzzone zwischen den Flüchtlingsströmen einzusetzen und ihm im Gegenzug neue Privilegien einzuräumen, ist weit weg von dem, was man seinerzeit abfällig „Privilegierte Partnerschaft“ nannte. Erdoğan kann heute Forderungen stellen, er kann Forderungen ablehnen, er steht mit Europa endlich auf einer Stufe und ist paradoxerweise näher als je zuvor an Europa herangerückt.

Gleichzeitig hält er geschickt die Beziehung zu seinen Partnern in Russland und den USA aufrecht und bleibt damit für seine Verhandlungspartner in Europa unberechenbar.

In dieses Vakuum stößt nun der gescheiterte Militärputsch im Sommer 2016. Egal ob Erdoğan ihn inszeniert hat, wie seine Gegner behaupten oder ob es sich tatsächlich um einen fehlgeschlagenen Versuch der verhassten Gülen Bewegung handelt. Erdoğan hat die Situation geschickt für sich genutzt, um zahlreiche unliebsame Gegner aus dem Verkehr zu ziehen, sie zu inhaftieren und die Forderung nach strengeren Gesetzen zu legitimieren. Die türkische Bevölkerung im In- und Ausland folgt ihm dabei. Die Opposition ist weitgehend entmachtet, das Militär ist de facto nicht mehr existent und wer sich noch traut, eine kontroverse Meinung zu vertreten, wird drangsaliert und eingeschüchtert.

Die Türkei steht am Abgrund zu einer präsidialen Diktatur, wie es sie zuvor nur unter Kemal Atatürk gegeben hat und sie ergibt sich dankbar ihrem Schicksal, denn mehr noch als die Angst davor, dass Erdoğan seine Macht missbrauchen könnte, fürchtet man die Rückkehr des verfilzten Establishments, mehr noch, als dass man Erdoğan für einen Tyrannen hält, verachtet man die Arroganz derer, die die Türkei jahrelang erniedrigt haben.

Dieses Wechselspiel aus Zuckerbrot und Peitsche, welches Erdoğan sich und seinen Landsleuten verabreicht, aber auch der Umgang mit seinen Partnern im Ausland, entsprechen maßgeschneidert seinem Selbstverständnis einer starken und wehrhaften Türkei. Auf der einen Seite die rasante Entwicklung der türkischen Wirtschaft, auf der anderen Seite die außenpolitische Durchsetzungsfähigkeit rechtfertigen dabei den Anspruch auf die grenzenlose Ausweitung seiner Befugnisse.

Gestützt wird dieses Vorhaben bisher vor allem durch das sensible innenpolitische Gleichgewicht und das wirtschaftliche Wachstum. Solange diese Komponenten stabil bleiben, ist mit keinem Widerstand zu rechnen. Das durchschnittliche Gehalt eines türkischen Arbeiternehmers hat sich in den letzten Jahren nahezu verdreifacht. Das Sozial- und Gesundheitssystem wurde reformiert und massentauglich gemacht. Die Türkei ist mittlerweile eine der am stärksten wachsenden Volkswirtschaften der Welt und niemand wird sich in dieser Lage trauen, sich Erdoğan in den Weg zu stellen.

Außer eben der eigenen Verfassung, die er jetzt aus diesem Grund auch ändern will. Denn solange die Gewaltenteilung nach altem atatürkischen Muster besteht, solange kann Erdoğan auch nicht schalten und walten wie er will und nur darin sieht er den einzig richtigen Weg. Das Referendum wird darüber entscheiden und es wird am Ende wahrscheinlich nur Verlierer geben. Denn entweder gewinnt Erdoğan und baut seine Macht weiter aus oder die Türkei versinkt im Chaos ihres eigenen Ungleichgewichts.

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