WirtschaftsWoche: Herr Ischinger, der Nahe Osten droht zu verfallen, der Ukrainekonflikt ist ungeklärt, Populisten gewinnen quer durch Europa an Zuspruch. Kann die EU diese Krisen überstehen, oder droht ihr ein Kollaps?
Wolfgang Ischinger: Die großen Projekte dieser Europäischen Union sind alle in Schönwetterzeiten entstanden, vom Schengen-System bis zum Euro. Jetzt regnet es plötzlich so stark, dass Europa in den Grundfesten erschüttert wird. Europa muss jetzt sturmfest gemacht werden. Nach der griechischen Finanzkrise, die Wirtschafts- und Finanzfachleute beschäftigt hat, geht die Flüchtlingskrise noch tiefer: Sie führt zur enormen Verunsicherung in der Bevölkerung.
Zur Person
Ischinger, 69, arbeitete von 1975 bis 2008 im Auswärtigen Amt, unter anderem als Staatssekretär und Botschafter in den USA, seitdem leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz.
Erleben wir auch eine Krise des Westens?
Schlimmer noch: Wir erleben eine weltweite Führungskrise. Die USA wollen nur noch punktuell führen, weshalb in der Weltpolitik ein Machtvakuum entstanden ist – und in dieses Vakuum stoßen etwa in Syrien die Russen, nachdem der Westen dort vier Jahre lang weggesehen hat.
Wie kann die EU, die seit Langem selber kriselt, dieses Vakuum füllen?
Wir Europäer müssen entscheidungs- und handlungsfähig werden, auch im militärischen Bereich. Der Westen braucht wieder mehr Schwung. Frankreich hat nach den Terroranschlägen von Paris die Beistandsklausel des Lissabon-Vertrags bemüht, an deren Existenz die meisten Regierungen sich kaum erinnerten. Nun müssen wir uns ehrlich zugestehen, dass wir gar nicht beistandsfähig sind …
… Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will das jetzt ändern, indem sie 130 Milliarden Euro für die Modernisierung des deutschen Militärs fordert. So soll bis zum Jahr 2030 dessen Einsatzfähigkeit wachsen.
Das ist ein wichtiger und notwendiger Schritt. Ich finde es ermutigend, dass auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mehr Geld für Außen- und Sicherheitspolitik ausgeben will. Wir müssen aber noch grundsätzlicher denken und endlich im Verteidigungsbereich die Kleinstaaterei abschaffen. Manches kleinere EU-Mitgliedsland bestellt einige wenige Eurofighter für wahnsinnig viel Geld, statt dass alle Mitgliedstaaten gemeinsam größere Stückzahlen bestellen und so Beschaffungskosten drastisch senken.
Berater von McKinsey haben ausgerechnet, dass solches „Pooling & Sharing“ im Verteidigungsbereich einen zweistelligen Milliardenbetrag allein in Deutschland einsparen könnte. Warum klappt das nicht?
Weil es kurzfristig erst etwas mehr kosten würde: Schaffen wir gemeinsame Einkaufsstrukturen, verliert womöglich die Industrie einzelner Staaten zunächst Aufträge. Das macht so einen Schritt politisch schwierig. Eine europäische Verteidigungspolitik wäre also eine Vision, die wie einst die Währungsunion von den wichtigsten EU-Ländern durchgesetzt werden muss, und zwar von ganz oben.
Die zehn gefährlichsten Konflikte der Welt
In Syrien und im Irak gehört die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu den stärksten Kriegsparteien. Im syrischen Bürgerkrieg bekämpfen sich zudem das Regime und seine Gegner. Iran, die Hisbollah-Miliz und die russischen Luftwaffe sind dort involviert.
Quelle: dpa
Bei den Kämpfen zwischen ukrainischen Regierungseinheiten und prorussischen Separatisten im Unruhegebiet Donbass starben seit April 2014 mehr als 9000 Menschen. Von den 13 im Friedensplan von Minsk vereinbarten Punkten wurde noch keiner vollständig umgesetzt.
Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram will in Nigeria und angrenzenden Gebieten der Nachbarländer Kamerun, Tschad und Niger einen „Gottesstaat“ errichten, verübt blutige Anschläge und Angriffe.
Fünf Jahre nach ersten Protesten gegen den später gestürzten und getöteten Diktator Muammar al-Gaddafi ist Libyen ein „failed state“ (gescheiterter Staat) - und ein Rückzugsgebiet für IS-Kader.
Im Südchinesischen Meer streitet sich China gleich mit einer ganzen Reihe seiner Nachbarn um Territorien.
Nordkoreas Raketen- und Atomprogramm wird in der Region, aber auch darüber hinaus, ja weltweit, als Bedrohung angesehen.
Der Konflikt dort flammt wieder voll auf. Die Taliban kontrollierten jetzt so viel Territorium wie seit 2001 nicht mehr. Dutzende Bezirke sind umkämpft, der IS versucht sich auszubreiten.
Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern schwelt schon seit Jahrzehnten. Seit Oktober 2015 gibt es wieder eine neue Serie palästinensischer Anschläge.
Im jemenitischen Bürgerkrieg sind schon mehr als 5800 Menschen gestorben. Die schiitischen Huthi-Rebellen kontrollieren weite Teile im Norden, die regimetreuen Truppen werden von Luftschlägen einer saudisch geführten, sunnitischen Militärkoalition unterstützt.
Die Türkei ist der einzige Nato-Partner, bei dem in Teilen des Landes bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen: In kurdischen Städten im Südosten geht das Militär gegen Kämpfer der PKK vor.
Wer soll das tun? Deutschland steht seit der Euro-Krise ohnehin unter Generalverdacht, anderen Mitgliedstaaten seinen Willen aufzuzwingen.
Gerade deswegen sollten wir Deutschen das Projekt vorantreiben. Geht Berlin bei der Stärkung europäischer Institutionen voran und baut eine europäische Armee auf, beweist das: Deutschland ist bereit, seine Größe und seine Stärke in den Dienst Europas zu stellen.
Warum Europa Russland nicht zu sehr schwächen sollte
Europa steht auch durch russische Aggressionen unter Druck. Wladimir Putin lässt in Syrien neben dem „IS“ auch die syrische Opposition bombardieren – und seine Militärs provozieren die Türken, indem sie regelmäßig deren Luftraum verletzen.
In Syrien will Moskau seinen Anspruch durchsetzen, in der Region dauerhaft geopolitisch mitzureden. Im Ukrainekonflikt haben sie zudem einen Warnschuss an den Westen gegen weitere Nato-Erweiterungsschritte abgegeben. Mittlerweile stellt man in Moskau aber durchaus Überlegungen an, wie sich der für die russische Wirtschaft entstandene Schaden begrenzen lässt.
Also sollte der Westen seine Russlandsanktionen lockern, auf die sich etwa die EU-Mitglieder nach der Ukrainekrise mühsam geeinigt haben?
In Moskau ernten wir keinen Respekt, wenn wir plötzlich einknicken. Aber Russland hat es in der Hand, in den kommenden Monaten die Bedingungen des Minsk-Abkommens zu erfüllen, um so ein Ende der Sanktionen zu erreichen. Putin hat gerade einen hochrangigen Vertrauten in die Minsk-Kontaktgruppe entsandt. Der wird dort sicher nicht nur herumsitzen.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Kann Russland wieder Partner der Europäer werden?
Wir wollen kein darbendes Russland, sondern ein stabiles. Amerikanischen Stimmen, nur ein schwaches Russland führe zu einer sicheren Welt, sollten wir widersprechen. So eine Sichtweise ist gefährlich. Wir sollten also auch wieder da einsetzen, wo Russland nicht bloß provoziert, sondern auch kooperativ ist. Iran war ein positives Beispiel. Putin wird zwar in Sachen Krim so bald nicht einlenken. Aber er ist grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit der Nato und dem Westen bereit.
Weil er die Schwäche seines Landes spürt?
Das Land braucht angesichts seiner eigenen Krise wirtschaftliche Hilfe, auch wenn Putin das nie zugeben würde. Zugleich wissen kluge Russen, dass wir Europäer der russischen Wirtschaft ganz andere Impulse verleihen können, als etwa die Chinesen dies zu leisten vermögen.
Peking baut eine chinesisch dominierte Investitionsbank auf, die unter anderem in Afrika und in eine neue Seidenstraße investieren soll. Entsteht so eine bedrohliche Parallelstruktur zu originär westlichen Institutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds?
Solche Projekte sind eine Reaktion auf die Unfähigkeit des Westens, die bestehenden internationalen Institutionen so umzubauen, dass China angemessen beteiligt wird. Über eine Reform des IWF reden wir seit 15 Jahren, ohne Erfolg. Noch immer steht an dessen Spitze automatisch ein Europäer, daran wird sich auch in den nächsten Jahren wohl nichts ändern. Der Westen müsste endlich bereit sein, auf berechtigte chinesische Interessen mehr einzugehen. Wie wäre es etwa, wenn der nächste Präsident der Weltbank ein Chinese wäre?