Zahl der Migranten steigt wieder Griechenland fürchtet neue Flüchtlingswelle

Auf den Ägäisinseln kommen wieder deutlich mehr Flüchtlinge an als zuletzt. Griechenland befürchtet, dass Erdogan bereits anfängt, die Schleusen wieder zu öffnen. Damit könnte er im Visastreit Druck auf die EU ausüben.

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Flüchtlinge freuen sich bei der Ankunft in Griechenland – der Staat aber fürchtet eine neue Einwanderungswelle. Quelle: dpa

In Griechenland wächst die Sorge vor einem neuen Anschwellen des Flüchtlingsstroms. Nachdem sich die Europäische Union und die Türkei im März auf das Flüchtlingsabkommen geeinigt hatten, war die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die über die Ägäis zu den griechischen Inseln kommen, stark zurückgegangen.

Jetzt schwillt der Strom wieder an – weil die türkischen Behörden die Schleuser wieder gewähren lassen? Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu stellt der EU bereits ein Ultimatum: Wenn sie der Türkei nicht bis Oktober die zugesagte Visumfreiheit gewähre, werde Ankara den Flüchtlingspakt aufkündigen, sagte Cavusoglu in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Der Streit um die Visumfreiheit schwelt seit Monaten. Die Türkei hatte schon Ende 2013 zugesagt, dafür 72 Reformschritte umzusetzen – unter anderem eine Lockerung der Anti-Terror-Gesetze. Doch davon will Ankara jetzt nichts mehr wissen. Das Thema hat aktuell besondere Brisanz: Unter Berufung auf die Anti-Terror-Gesetze wurden in den vergangenen zwei Wochen tausende mutmaßliche Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen verhaftet, den die Regierung als Drahtzieher des Putschversuchs vom 15. Juli beschuldigt.

Lässt Ankara den Flüchtlingspakt platzen, könnte das zweierlei bedeuten: Die Türkei würde die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland einstellen – die allerdings ohnehin bisher kaum funktioniert. Schwerwiegender wäre eine andere Folge: Die Türkei könnte wieder mehr Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland schicken. Cavusoglu deutete bereits an, die „Bekämpfung der Menschenschmuggler“ sei „abhängig von der Aufhebung der Visumpflicht“.

Für Griechenland wäre es eine Katastrophe, wenn der Flüchtlingsstrom wieder anschwillt. Schon jetzt geht es in den Flüchtlingslagern immer beengter zu. Christiana Kalogirou, die Präfektin der Region Nördliche Ägäis, schlägt Alarm: „Wie erleben auf den Inseln einen konstanten und ansteigenden Zustrom von Flüchtlingen und Migranten – es muss dringend etwas geschehen“, schrieb die Verwaltungschefin in einem Brandbrief an Migrationsminister Giannis Mouzalas.

Auf der Insel Lesbos gibt es aktuell 3922 Flüchtlinge – auslegt sind die dortigen Lager für 3500 Personen. Auf Chios gibt es 1100 Plätze, tatsächlich hausen in den Lagern aber 2598 Menschen. Auf Samos sind die Unterkünfte, die für 850 Personen ausgelegt sind, mit 1340 Menschen ebenfalls überfüllt.


EU sorgt sich um Flüchtlingsabkommen – Steigerung „kein Zufall“

Die meisten Menschen warten schon seit vier Monaten in den Lagern. Das Flüchtlingsabkommen sieht vor, dass sie in die Türkei zurückgeschickt werden können – aber erst, wenn über ihre Asylanträge entschieden ist. Die Verfahren ziehen sich hin, weil es auf den Inseln immer noch nicht genug Asylbearbeiter gibt. Seit dem Abschluss des Flüchtlingsabkommens sind deshalb nicht einmal 500 Menschen in die Türkei zurückgebracht worden. Auch die versprochene Umsiedlung von Flüchtlingen in andere EU-Staaten stockt.

Nach Angaben des griechischen Innenministeriums hielten sich am Montag 57.115 Flüchtlinge im Land auf, davon 9399 auf den Inseln. Die Zahlen steigen aber. Während in der ersten Juli-Hälfte pro Tag durchschnittlich 35 Menschen aus der Türkei übersetzten, waren es seit dem Putschversuch am 15. Juli durchschnittlich fast 90 pro Tag. Das ist zwar immer noch eine kleine Zahl, verglichen mit täglich rund 2000 Neuankömmlingen in den Monaten vor dem Flüchtlingsabkommen. Aber der Anstieg sei nicht zufällig, meint ein Experte der griechischen Küstenwache, der nicht namentlich zitiert werden will. Die Schleuser hätten in der Türkei offenbar wieder freiere Hand, so der Beamte.

Ob dahinter politisches Kalkül steckt, weiß wohl nur Erdogan. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker äußerte am Wochenende die Sorge, das Risiko eines Scheiterns des Flüchtlingsabkommens sei „groß“. Ein erstes Anzeichen gibt es bereits: Vergangene Woche rief die türkische Regierung sieben Beobachter zurück, die sie zur Umsetzung der Vereinbarung auf die griechischen Inseln entsandt hatte.

Wenn der Flüchtlingspakt zusammenbricht, drohen den betroffenen Inseln der Ostägäis eine humanitäre Katastrophe und ein wirtschaftliches Desaster. Der Tourismus, eine der Haupteinnahmequellen der Menschen auf den Inseln, leidet schon jetzt unter der Flüchtlingskrise. Auf Chios ist die Zahl der ankommenden Pauschalreisenden im Juli gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent zurückgegangen, auf Lesbos sogar um 65 Prozent. Für die Beschäftigten in der Hotellerie und Gastronomie ist das ein schwerer Schlag. Viele von ihnen sind jetzt, in der Hochsaison, arbeitslos.

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