Stattdessen lebt die Ukraine seit Jahren von der Hand in den Mund. Da überrascht es nicht, dass die Ratingagentur Moody’s am vergangenen Mittwoch wie zuvor Standard & Poor’s die Staatsanleihen des Landes auf Ramschniveau abstufte. Dieses Regieren auf Sicht erklärt zudem, wieso Kiew nach sechs Jahren der Verhandlungen das EU-Assoziierungsabkommen plötzlich abgelehnt hat: Russland hatte Anleihenkäufe in Höhe von 15 Milliarden Dollar zugesagt – gerade genug, um mal wieder ein paar Monate den Kopf über Wasser zu halten. Vom Westen gab es kein Angebot, auch von der EU nicht. Nur die Wucht der Straße hatte in den Höhen der Politik keiner auf der Rechnung. Und so kommt es, dass der alte Ost-West-Konflikt wieder ausbrechen konnte in einem Land, das während der Fußball-EM noch geeint schien. Der Westen aber fühlt sich nun vom Osten verraten. Aber ist es so, dass die Ostukrainer nach Russland schauen?
Zurück in Donezk. Klein und stickig ist das Büro von Roman Bystrjakow. An der Garderobe hängt eine blaue Mütze, Wahlwerbung für Janukowitsch. Der Kaufmann lacht, als man ihn darauf anspricht. „Die schenke ich Ihnen, ist noch vom Wahlkampf übrig geblieben.“ Viel ist nicht übrig geblieben von seiner Begeisterung für Janukowitschs Partei der Regionen. „Hier hat die Regierung alle enttäuscht“, erzählt der Unternehmer. Sie habe Stabilität versprochen – und verwalte nun dasselbe Chaos, wie die Regierungen vor ihr: schwaches Wachstum, ausufernde Korruption, Inflation. Dennoch fragt er: „Wer weiß, ob es der Klitschko besser kann?“
Europa gewährleistet Stabilität
Natürlich ist der Osten kein Satellit des Kremls. Bystrjakow wirkt verärgert, wenn er diese Frage kontert: „Ich bin absolut für die EU-Annäherung und glaube, die meisten Menschen hier sehen das auch so.“ Der Vorteil des EU-Wirtschaftsmodells liege in Stabilität und guter Regierungsführung. Das gewährleiste Europa, nicht Russland.
Die Nachricht vom Vormittag schien das zu bestätigen: Da begann Russlands Zoll an der Grenze mit scharfen Kontrollen. Die Zöllner ließen alle Lkws abladen, um die Waren zu wiegen, zu testen, Bescheinigungen zu prüfen. Das kostet nicht nur der Zeit wegen Geld – die Russen lassen sich den Kontrollaufwand über Gebühren von 5 bis 40 Prozent des Warenwerts bezahlen. So erdrosseln die Russen den Handel mit dem Bruderstaat – und auch die Geschäfte von Roman Bystrjakow leiden. Der Industriegroßhändler verkauft Trennscheiben und Bohrer an Metallverarbeiter in der Region. Wenn die keine Aufträge haben, hat er auch keine. Einer seiner größten Kunden liefert Schienen für die russische Eisenbahn RZD. Die habe mit Ausbruch der Proteste die Aufträge storniert, sagt Bystrjakow. „Die Fabrik steht still.“ So verprellen sich die Russen selbst beste Freunde.
Eine Drohkulisse
Freilich haben die Zollschikanen einen Grund: Der Kreml versucht, den Rücktritt des willfährigen Präsidenten Janukowitsch zu verhindern. Neuwahlen könnten Kontrollverlust über die Ukraine zur Folge haben – also hält man eine Drohkulisse aufrecht. Der Kreml hält Kiew unter Druck, indem er den für Ende Januar angekündigten Anleihekauf verzögert. Die Zollpolitik ist ein Warnsignal an die Oligarchen, deren Unternehmen im Osten enorm vom Russland-Export abhängen. Sicher ist es auch kein Zufall, dass über die Zollschikanen hinaus ausgerechnet der Schokoladenhersteller Roshen unter einem russischen Totalembargo leidet: Es gehört dem Schokoladenzar Petro Poroschenko, einem der größten Verfechter der EU-Annäherung.
Die Strategie des Kremls ist durchschaubar. Sie könnte aber auch nach hinten losgehen. Geläutert von den frühkapitalistischen Wirren der vergangenen Jahre, fahren die Unternehmer ihren direkten Einfluss auf die Politik zurück. Im Januar ließ Oligarch Achmetow durchsickern, seine Abgeordneten im Parlament könnten fortan frei entscheiden. Und die Fernsehsender der meisten Oligarchen berichteten offen über die Polizeigewalt während der Unruhen in Kiew.