Spielraum nach oben haben sich die Staats- und Regierungschefs bewahrt, indem sie stets relativ sanft auf die Aktionen der Gegenseite reagierten, nachdem russische Okkupanten die Krim besetzt hatten. Damals wurden erst einmal die Brüsseler Verhandlungen über Visa-Erleichterungen und ein Assoziierungsabkommen mit Russland ausgesetzt. Präsident Putin ließ sich davon und von den gleichzeitigen, etwas weiter gehenden amerikanischen Sanktionen nicht beeindrucken. Moskau proklamierte Mitte März die Annexion der Krim, woraufhin die EU Einreiseverbote aussprach und das Vermögen russischer Politiker und Oligarchen einfror. Die Namensliste der davon Betroffenen wurde mittlerweile erweitert: Nach derzeitigem Stand gelten für 119 Personen und 23 Unternehmen mehr oder weniger weitreichende Restriktionen.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
All das änderte nichts an der russischen Aggression in der Ukraine und an den zunehmend heftigeren Umtrieben der von Moskau gestützten Separatisten in der Ostukraine. Hunderte Passagiere eines Passagierflugzeugs auf dem Flug von Amsterdam nach Kuala Lumpur mussten sterben, bevor die EU im Juli effiziente Wirtschaftssanktionen verhängte, vor allem gegen die russische Finanzbranche. Privatleute und Unternehmen aus der EU dürfen seitdem keine Schuldtitel der bedeutenden russischen Banken Sberbank, VTB, Bank of Moscow, Gazprombank und Rosselchosbank mit einer Laufzeit von mehr als 90 Tagen erwerben. Inzwischen gilt dieses Verbot für Anleihen mit einer Laufzeit von mehr als 30 Tagen.
Außerdem ächtet die EU auch Anleihen der drei großen Energieunternehmen Rosneft, Transneft und der Ölsparte von Gazprom (bei der Erdgassparte sind die Europäer vorsichtig) sowie Papiere von drei großen russischen Rüstungsherstellern.
Oberflächlich Einig
All das dauerte so lange und wurde von den Vertretern der nationalen Regierungen bis ins letzte Detail verhandelt, weil sich die Europäer im Umgang mit Putin und seinem Expansionsdrang nur oberflächlich einig sind. Die Staats- und Regierungschefs hatten die Sanktionen Ende August beschlossen. In Kraft traten sie dann aber mit Verzögerung, und der scheidende Ratspräsident Herman Van Rompuy kündigte gleich an, die Beschlüsse würden wenigstens teilweise aufgehoben, sollte der Waffenstillstand in der Ostukraine halten.
Nur so ließ sich ein Mitgliedstaat wie Finnland mit seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland bei der Stange halten. Der finnische Ministerpräsident Alexander Stubb gehört zu den größten Kritikern der Sanktionen, weil sein Land unter einem möglichen russischen Gegenschlag am meisten zu leiden hätte. Ohne Gaslieferungen aus Russland wären die finnischen Reserven nach einem Monat aufgebraucht. Ähnlich sieht es in der Slowakei und in Bulgarien aus. In Finnland kommt die Angst vor einem russischen Überflugverbot für europäische Fluglinien dazu – und mit einer solchen ökonomischen Konterattacke hat der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew bereits gedroht. Doch Flüge nach Asien über Sibirien machen derzeit mehr als die Hälfte der Passagierkilometer von Finnair aus.
Zu den Sanktionsskeptikern in der EU zählen neben den ängstlichen Erdgaskunden aber auch die Italiener, weil Putin aus der südeuropäischen Entfernung weniger als Bedrohung wahrgenommen wird als in der direkten Nachbarschaft wie im Baltikum und in Polen.