
Es ist Mittwochabend gegen 21.15 Uhr, als Christian Wulff endlich lächeln kann. Nicht so wie er es für die Fotohandys seiner Parteifreunde schon viele Stunden zuvor in Reihe eins des Bundestages gemacht hat. Nein, richtig lächeln. Er hat es geschafft. 625 von 1244 Stimmen der Bundesversammlung machen aus dem niedersächsischen Ministerpräsidenten den neuen Bundespräsidenten. Fast zehn Stunden Warten, Hoffen, Zittern liegen da endlich hinter ihm.
Lange Zeit an diesem schwülen Mittwoch sieht es so aus, als müsste Christian Wulff für all das büßen, was die schwarz-gelbe Regierung in den vergangenen Monaten an Verstimmung und Entfremden angehäuft hat. Als Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am Mittag die Sitzung der Bundesversammlung eröffnet, ist die Stimmung noch allseits feierlich, fast gelöst. Lammert inszeniert sichtbar seine Rolle als Verfassungsorgan, er macht Witze, das Plenum lacht dankbar. Seine eigentlich beiläufige Anspielung auf die Mandats-Debatten der vergangenen Tage, die Wahl „nicht der sonst unverzichtbaren Mehrheitsregel zu unterwerfen“, wird bei SPD und Grünen sogar mit aufgekratztem Beifall bedacht. Lammert kontert mit Freude.
Auf der Gästetribüne über dem Plenarsaal des Reichstages plaudert Wulffs Gegenkandidat Joachim Gauck entspannt mit Altbundespräsident Roman Herzog, der grüne Wahlmann und Regisseur Sönke Wortmann vertieft sich in ein Gespräch mit Nordrhein-Westfalens Noch-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU). BDI-Chef Hans-Peter Keitel, von der CDU vergangenes Jahr zur Wiederwahl Horst Köhlers und nun erneut nominiert, überfällt derweil bereits eine Vorahnung: Beide Kandidaten seien „respektabel“. Nicht nur der eigene.
Die FDP beschuldigt die Union
Das sehen offenbar auch andere so. Und das Gefühl manifestiert sich in einer Zahl: 600. Nicht weniger, aber auch nicht mehr Stimmen kann Christian Wulff im ersten Wahlgang auf sich vereinen. Mit 15, vielleicht 20 Stimmen Verlust hatte man in der Koalition gerechnet, nicht aber damit, dass gleich 44 der 644 schwarz-gelben Wahlfrauen und -männer dem eigenen Kandidaten ihr Kreuz verweigern. 23 fehlen, um Wulff gleich im ersten Wahlgang sicher und souverän ins Amt zu helfen. Gleichzeitig erhält Gauck mit 499 Stimmen weit mehr, als das rot-grüne Lager aufbieten könnte. Selbst die linke Kandidatin Luc Jochimsen erhält mit 126 Stimmen zwei mehr als ihre Fraktion überhaupt hat. Als Wulffs 600 genannt wird, geht ein kurzes, erschrockenes Luftholen durch den Saal. Dann erst erfüllt trotziges Klatschen dien Stille. Eine Sensation liegt plötzlich in der Luft. Und die heftige Abmahnung an die Bundeskanzlerin und ihre Regierung, sie ist da. In aller Öffentlichkeit.
Es beginnt die Zeit der Deutungen. Angela Merkel könne jetzt noch einmal „das Signal für einen gemeinsamen Kandidaten“ geben, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir in den Fluren des Reichstags. Und: „Triumpfgeheul wäre fehl am Platze.“ Sein Gesicht sagt etwas anderes. Die FDP schiebt das Debakel derweil auf die Union. „Da haben ein paar zuviel ihr Mütchen gekühlt“, sagt einer aus der liberalen Fraktionsspitze. FDP-Generalsekretär Christian Lindner und Entwicklungshilfe-Minister Dirk Niebel streuen die Parole: CDU-Problem. Und ein Regierungsmitglied flüstert auf den Reichstagsgängen: „Das ist gar keine schöne Situation.“ Das Wort vom Charaktertest macht die Runde.
Doch die ersten einberufenen Fraktionssitzungen verpuffen. Auch der zweite Wahlgang gegen 17 Uhr bringt keine Erlösung für die schwankende, suchende und zweifelnde schwarz-gelbe Koalition: 615 Stimmen bekommt Wulff nun, die absolute Mehrheit von 623 ist erneut verpasst. In der zweiten Fraktionssitzung kommt die Zeit der Appelle. Auch wenn im dritten Wahlgang die einfache Mehrheit der Stimmen genügen würde: Nun geht es um viel. Zu sehr wird die Wahl des Bundespräsidenten als verlängerte Vertrauensfrage der Kanzlerin wahrgenommen, als Lackmustest der Koalition. Erst Angela Merkel, dann CSU-Chef Horst Seehofer und dann der scheidende Ministerpräsident Roland Koch ergreifen im Unions-Fraktionssaal auf Ebene 3 des Reichstags nacheinander das Wort. Gauck mache sich im dritten Wahlgang von den Linken abhängig, Leute die er immer bekämpft habe, sagt Koch. Seehofer mahnt die eigenen Leute streng, auf die Außenwirkung zu achten. Auch die Kanzlerin beschreiben Teilnehmer als „sehr emotional“.
Zehn Stunden Bangen
Besonders lange Zeit lassen sich die Linken mit ihrer Beratung. Sondierungen zwischen Grünen, SPD und Linkspartei, noch einen gemeinsamen Alternativkandidaten zu küren, versanden allerdings blitzschnell wieder. Und so ist es am Ende die Linke, die mit einer Entscheidung den Weg für Wulff ebnet. Gregor Gysi erklärt, ihre Kandidatin Luc Jochimsen habe sich entschlossen, im dritten Wahlgang nicht mehr anzutreten. Natürlich sei die Wahl damit „frei“, sagt Gysi. Aber er fügt hinzu: „Ich gehe davon aus, dass beide konservativen Kandidaten für uns nicht wählbar sind.“ Klartext: Enthaltung.
Die Linke wird dieser Empfehlung fast geschlossen folgen. Sie bedeutet, dass Gauck trotz Sympathien und Stimmen aus dem bürgerlichen Lager keine Chance hat, mit Mehrheit gewählt zu werden. Das Resultat der dritten Abstimmung geistert schon ab 21 Uhr per SMS und Mund-zu-Mund-Botschaften über die Pressetribüne, noch bevor Norbert Lammert ein paar Minuten später ein drittes und letztes Mal das Wahlergebnis verkündet. Diesmal kann Christian Wulff 625 Stimmen auf sich vereinen, Gauck 494. Nun, wo sie nicht mehr nötig ist, schafft Wulff die absolute Mehrheit.
Lange applaudieren SPD und Grüne ihrem Kandidaten. Aufatmender Jubel und minutenlanges Klatschen begleiten Christian Wulff. Es ist die Erlösung der Koalition durch sich selbst. Statt Debakel nur ein Denkzettel.
Wulffs erste Rede als Bundespräsident ist dankbar und nüchtern. Er findet lobende Worte für seinen Konkurrenten Gauck und bedankt sich für den „fairen Wettstreit“. Er wolle, so sagt Wulff, der jüngste Präsident in der Geschichte der Bundesrepublik, „beitragen zur inneren Einheit unseres Landes“. Nach fast zehn Stunden Bangen hat das neue Staatsoberhaupt immerhin den letzten Lacher an diesem Abend auf seiner Seite. Neun Jahre Anlauf habe er gebraucht, um Ministerpräsident von Niedersachsen zu werden. „Da“, sagt Wulff, „war die Bundesversammlung relativ kurz“.