Bundestagswahljahr Immer flotter rotiert der Themenkreisel

Politik und Wirtschaft starten mit einer großen Portion Ungewissheit in das Jahr 2009. Die meisten politischen Debatten sind von der Realität längst überrollt worden. Für ein Bundestagswahljahr ist das - zumindest für die Parteien - die denkbar schlechteste Voraussetzung.

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Blick in den Bundestag: Noch nie war Politik so hektisch und schnelllebig wie in den vergangenen Jahren. Quelle: dpa

HANDELSBLATT. Hand aufs Herz: Wissen Sie noch, was das vorherrschende politische Thema im Sommer des Jahres 2007 war? Und seien Sie ehrlich: Wenn man Sie im Mai gefragt hätte, wo Sie den Ölpreis im Frühling 2009 sehen, was hätten Sie geantwortet? Beide Antworten sind geeignet, uns allen einen Schauer über den Rücken zu jagen.

Denn die Antwort auf die erste Frage lautet "Teilhabe". Man kann sich heute kaum noch daran erinnern: Aber den Sommer 2007 bestimmte eine erregte Debatte darüber, wie Arbeitnehmer von dem sich verstärkenden wirtschaftlichen Aufschwung profitieren können. Längst hatten die politischen Parteien erste Strategien entwickelt, wie sie das "Teilhabe"-Thema im Wahljahr 2009 nutzen könnten.

Den Ölpreis für das kommende Jahr vermuteten die meisten Experten noch vor kurzem bei mehr als 200 Euro pro Barrel. Eine Phase der ständig steigenden Nachfrage, der Spekulation auf einen noch schneller wachsenden Bedarf und eine einsetzende Knappheit der Rohstoffe hatten das Denken geprägt.

Beides sind Beispiele dafür, wie schnell sich derzeit die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wandeln. Immer stärker wird der Widerspruch zwischen dem Wunsch, möglichst langfristig zu planen, Sicherheit für sich und andere zu schaffen - und der Notwendigkeit, Prognosen sehr schnell wieder korrigieren zu müssen. Dem "mea culpa" der Demoskopen folgte vor kurzem das "mea culpa" der Wirtschaftswissenschaftler und Institute.

Kein Wunder, dass Politik und Wirtschaft in das Jahr 2009 mit so viel Ungewissheit starten wie nie zuvor. Nicht ohne Grund verwenden Politiker derzeit gerne Sprachbilder wie "auf Sicht fahren" oder "vor einer Nebelwand stehen". Extreme Kurzsichtigkeit macht sich breit. Ging es früher darum, die Autobahn zu beschreiben, auf der man voranrasen wollte, häufen sich nun die Warnungen, dass hinter der nächsten Kurve der Abgrund lauern könnte.

Für ein Bundestagswahljahr ist das - zumindest für die Parteien - die denkbar schlechteste Voraussetzung. Denn bei jeder Festlegung schwingt die Gefahr mit, Antworten auf Fragen geben zu wollen, die von den Wählern in ein paar Wochen gar nicht mehr gestellt werden.

Welche Gefahren das birgt, zeigt etwa die Klimadebatte. Seit 2006 galt der Umweltschutz auch für den Mainstream der deutschen Politik als DIE kommende Herausforderung. Weil ein Profilierungsrennen um den Platz als konsequentester Umweltschützer einsetzte, wurden die Warnungen vor der Erderwärmung immer dramatischer, die Politiker immer entschiedener.

Auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm wirkte vor allem die "Klimakanzlerin" Angela Merkel noch visionär, weil sie voranbrauste. Doch als jetzt die 27 EU-Regierungschefs in Brüssel zusammentrafen, hatte sich der Wind gedreht. Der EU-Gipfel beschloss zwar ein Klimaprogramm. Doch etliche EU-Kollegen hatten hinter vorgehaltener Hand bereits gefragt, ob man die Selbstverpflichtungen angesichts der weltweiten Rezession nicht lieber vertagen sollte. Denn nun scheint völlig klar, dass 2009 in der Rezession die Sicherung von Arbeitsplätzen in fast allen Staaten im Vordergrund stehen wird. 2009 wird zudem die bisherige deutsche Debatte "Wer spart am meisten?" abgelöst werden durch das Wettrennen, wer die größeren Investitionsprogramme auflegt - auch wenn diese schuldenfinanziert sind.

Der Paradigmenwechsel vollzieht sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Gerade erst war die Haushaltskonsolidierung mit Blick auf nachfolgende Generationen zur obersten Maxime erklärt worden. Bis zur Mitte des Jahres hatten wir auch noch Inflationsgefahren beschworen - jetzt steigt die Angst vor einer Deflation.

Die Folge dieses dramatischen und beschleunigten Themenwechsels ist eine allgemeine Verunsicherung. Auch die Politik verzichtet lieber auf Visionen. Denn um im Bild zu bleiben: In einer zunehmend kurvenreichen Strecke geht der Voranbrausende das Risiko ein, als Erster im Abgrund zu landen. Das verändert die politische Kultur im Land. Journalisten mögen programmatische Parteitage schätzen - für Parteien sind sie gefährlich geworden, weil die Halbwertszeit politischer Programme drastisch gesunken ist. Konkrete Festlegungen dienen später nur als schriftlich fixierte Beweise für die eigene Wankelmütigkeit.

Wahrscheinlich suchen beide Volksparteien gerade wegen der Unsicherheit über die Zukunft immer stärker nach einem Anker in früheren Jahrzehnten. Wenn die CDU heute ständig die Soziale Marktwirtschaft betont, tut sie dies nicht nur, um ein ethischeres Wirtschaften zu fordern. Die Christdemokraten spüren vielmehr, dass ihnen das klare Profil abhandenkommt, dass sie selbst nicht wissen, wohin sie in den kommenden Monaten steuern werden. Was ist der Kern einer Partei, die gerade ihre Einwanderungs- und Familienphilosophie dramatisch geändert hat und nun den Keynesianismus entdeckt?

Bei den Sozialdemokraten ist dies ähnlich: Noch unter der kurzen Ägide von Kurt Beck hat die verunsicherte SPD-Führung mit der Glorifizierung ihrer Altkanzler begonnen. Das ist verständlich: Weil die SPD unsicherer denn je ist, wohin sie eigentlich will, orientiert sie sich an ihrer Herkunft. Vor allem Willy Brandt und Helmut Schmidt werden zu politischen Heiligenfiguren stilisiert. Der Mindestlohn dagegen taugt in einer Phase der Angst vor dem Arbeitsplatzverlust nicht mehr als Wahlkampfthema.

International erleben wir eine ähnliche Entwicklung. Mit dem Kalten Krieg endete auch die Gewissheit, wovor wir uns eigentlich fürchten sollen. Früher waren es die russischen Raketen. Heute sind es in schneller Folge mal islamistische Terroristen, mal ein Stopp russischer Gaslieferungen, mal iranische Atomprogramme. Zwischendrin fürchten die Amerikaner den angeblich unaufhaltsamen Aufstieg Japans, dann den Chinas - nur um jetzt zu entdecken, dass sie selbst über ihre Verhältnisse leben. Ab und zu stellt sich das ungute Gefühl ein, dass sich ein neuer Nuklearkrieg vielleicht doch am schnellsten zwischen Indien und Pakistan entwickeln könnte. Wie soll man darauf eine langfristige Politik aufbauen, die Herausforderungen nach ihrer Priorität angeht?

2009 wird also auch das Jahr der Ungewissheiten. Besonders hart trifft dies den neuen US-Präsidenten Barack Obama, der mit langfristigen Visionen antritt, aber nun vor allem kurzfristige Rezepte als Krisenmanager liefern muss.

Möglicherweise wird im kommenden Jahr deshalb ein zentraler Begriff von Hans Eichel recycelt - der der "Leitplanken" der Politik. Dem früheren Bundesfinanzminister war diese Beschreibung seiner Politik damals als Zeichen der Schwäche, des Lavierens ausgelegt worden. In Zeiten vermeintlicher Gewissheiten forderten viele die klare Botschaft des geraden Voranbrausens. Im Jahr 2009 dagegen liefert das Bild der "Leitplanken" so etwas wie Trost: Auf dem nebeligen Kurs bewegt man sich zögernd, nicht ganz geradlinig vorwärts. Doch die Begrenzungen zu beiden Seiten schützen zumindest vor dem Absturz.

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