Die Große Koalition erntet nach 100 Tagen im Amt scharfe Kritik von allen Seiten. Wirtschaft, Gewerkschaften Opposition und Kommunen werfen CDU/CSU und SPD Untätigkeit, das Setzen falscher Prioritäten und eine Selbstblockade durch den Unionsstreit in der Asylpolitik vor. Industriepräsident Dieter Kempf forderte die Bundesregierung zu mehr Teamgeist auf. DGB-Chef Reiner Hoffmann warf ihr vor, bei zentralen Themen für die Bürger bisher viel zu wenig unternommen zu haben. Die nach der Bundestagswahl im vergangenen September nur unter Mühen zustande gekommene große Koalition ist an diesem Donnerstag seit 100 Tagen im Amt.
Der Präsident der Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Kempf, sagte: „Mich besorgt, dass in zentralen Fragen wie der Migrationspolitik immer wieder Uneinigkeit zwischen den Koalitionären hervortritt. Deutschland braucht jetzt Strategie- und Handlungsfähigkeit. Müsste diese Mannschaft zur WM antreten, wäre ich nicht sicher, dass alle ihre Aufgaben, Lauf- und Passwege kennen.“ Die deutsche Industrie erwarte von der Regierung, dass sie ein Stabilitätsanker der EU sei und bleibe. „Das gilt sowohl im lodernden Handelskonflikt mit den USA, aber auch im Hinblick auf die europäische Migrationspolitik und die dringend notwendige Weiterentwicklung der Eurozone.“
Nach 100 Tagen sei die große Koalition noch keine Koalition für die Wirtschaft, monierte Kempf. „Das muss sich ändern. Deutschland genießt eine bemerkenswerte wirtschaftliche Prosperität mit einem lang anhaltenden Aufschwung und enormem Steuermehraufkommen. Und im Koalitionsvertrag stehen vor allem soziale Wohltaten an die älteren Generationen. Das widerspricht meinen Erwartungen an Gestaltungskraft. Wo bleiben die Interessen der jungen Generation?“
Was bedeutet die GroKo bisher für den Geldbeutel?
Die mehr als 56 Millionen Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen sollen entlastet werden. Mit dem vom Kabinett gebilligten Entwurf von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sollen ab 1. Januar 2019 auch die jetzt von den Mitgliedern allein zu zahlenden Zusatzbeiträge zur Hälfte von den Arbeitgebern getragen werden. Arbeitnehmer und Rentner sollen dadurch 6,9 Milliarden Euro jährlich sparen. Die Beiträge sollen sich um bis zu 38 Euro monatlich reduzieren. Bei einem Einkommen von 3000 Euro brutto sind es 15 Euro. Für Selbstständige mit geringen Einnahmen wird der monatliche Mindestbeitrag auf 171 Euro halbiert.
Höhere Beitrage soll es dagegen für die Pflege geben. Zum 1. Januar 2019 gebe es einen zusätzlichen Bedarf von 0,3 Prozentpunkten, sagt Spahn. Ohne diese Beitragsanhebung würde sich das Defizit in den kommenden Jahren weiter erhöhen. Der Beitragssatz liegt aktuell bei 2,55 Prozent des Bruttoeinkommens, bei Kinderlosen bei 2,8 Prozent.
Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll zum 1. Januar um 0,3 Prozentpunkte auf 2,7 Prozent gesenkt werden. Bei einem Durchschnittseinkommen von 3200 Euro können also 9,60 Euro gespart werden. Die Beitragszahler würden um 3,5 Milliarden Euro entlastet. Teile der Union fordern eine Senkung um 0,5 Punkte.
Familien sollen ab dem kommenden Jahr um rund 9,8 Milliarden Euro entlastet werden. Zu dem Paket von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) gehört eine Kindergelderhöhung um 10 Euro im Monat ab Juli 2019, ein höherer Grundfreibetrag, ein höherer Kinderfreibetrag und eine Entlastung mittlerer und unterer Einkommen bei der sogenannten kalten Progression. Die Reform soll vor allem auf Haushalte mit geringen oder mittleren Einkommen abzielen. Eine Familie mit zwei Verdienern und einem Bruttojahresgehalt von 60.000 Euro würde im kommenden Jahr um 9,36 Prozent entlastet, das wären 251 Euro. Bei einem Familieneinkommen von 120.000 Euro brutto soll die Entlastung 380 Euro im Jahr betragen.
Scholz plant zudem Entlastungen bei der Einkommensteuer. Insgesamt soll die „kalte Progression“ um 2,2 Milliarden Euro im kommenden Jahr und 2020 um 2,1 Milliarden Euro abgebaut werden - diese Summen sind in der Gesamtentlastung von knapp zehn Milliarden Euro ab 2019 eingerechnet. Das Problem der „kalten Progression“ entsteht, wenn Lohnerhöhungen nur die Inflation ausgleichen und durch den Steuer-Tarifverlauf mehr Steuern gezahlt werden müssen.
Nach den grundlegenden Vereinbarungen im Koalitionsvertrag noch nicht konkretisiert hat die Regierung weitere Projekte. Da sind zum einen die geplanten Rentenreformen, zunächst die Mütterrente. Unter anderem sollen Mütter, die vor 1992 drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht haben, künftig auch das dritte Jahr Erziehungszeit in der Rente angerechnet bekommen. Das Plus in der Tasche einer solchen Rentnerin hätte 2017 im Westen 31 Euro und im Osten knapp 30 Euro betragen.
Bei der geplanten Grundrente sollen Menschen, die Jahrzehnte gearbeitet, Kinder erzogen, Angehörige gepflegt haben, nach 35 Beitragsjahren 10 Prozent mehr als die Grundsicherung bekommen. Es könnte für sie also - von Region zu Region unterschiedlich - rund 84 Euro mehr geben.
Beim Baukindergeld sollen Familien 1200 Euro je Kind und pro Jahr erhalten, über einen Zeitraum von zehn Jahren. Dies soll bis zu einem zu versteuernden Haushaltseinkommen von 75.000 Euro plus 15.000 Euro Freibetrag je Kind gewährt werden. Die neue Förderung soll jährlich mehr als 200.000 Familien zugute kommen. In der Koalition gibt es aber noch Streit um den tatsächlichen Umfang.
Von der Digitalisierung der Schulen bis zum „Gute-Kita-Gesetz“ verspricht die Koalition vielen etwas.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Hoffmann, sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Regierung müsse einen Dialog über relevante Fragen anstoßen, die die Bürger wirklich bewegen. „Deren Lebenswelt ist zum Teil eine andere als aus dem politischen Berlin zu hören ist. Die Menschen machen die Erfahrung, dass es keinen bezahlbaren Wohnraum gibt, die Verkehrsinfrastruktur grottig ist, dass die Situation in unseren Schulen zum Teil katastrophal ist. Das sind Themen, die in Angriff genommen werden müssen.“ Bei der Kommunikation der Regierung gebe es erheblichen Verbesserungsbedarf.
Zwar habe die Koalition aus Union und SPD in den ersten 100 Tagen einiges auf den Weg gebracht wie die Parität bei der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit und die Einsetzung der Rentenkommission. „Das reicht aber nicht“, sagte Hoffmann.
Der Präsident des Deutschen Städtetags, Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU), kritisierte ebenfalls den Streit zwischen CDU und CSU in der Flüchtlingspolitik und warnte: „Wir können uns keine Konflikte leisten, die uns lähmen.“ Er wünsche sich, dass die Union im Asylstreit „schnellstmöglich“ eine Einigung erziele, sagte Lewe der dpa. „Denn wir haben Herausforderungen, die immens sind. Dazu gehören gleichwertige Lebensverhältnisse. Dazu gehört die steigende Bevölkerungszahl. Dazu gehört ein riesiger Investitionsstau.“
Es gebe erhebliche Herausforderungen in wachsenden Städten beim bezahlbaren Wohnraum, sagte Lewe. „Unsere Verkehrsinfrastruktur muss teilweise erheblich erneuert und ausgebaut werden. Und gleichzeitig müssen wir auch noch erhebliche Anstrengungen vornehmen bei der Digitalisierung.“
Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel hofft auf ein baldiges Ende der Bundesregierung: „Für Deutschland und die Deutschen wäre es das Beste, wenn den ersten hundert Tagen dieser Regierung nicht noch einmal weitere hundert GroKo-Tage folgen.“ Das Einzige, was Union und SPD „zügig durchgezogen“ hätten, sei die Anhebung der Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung. Während die großen Probleme ungelöst blieben, sei Merkels viertes Kabinett nach hundert Tagen schon mitten in der Krise.
Zufrieden mit der Arbeit ihrer Partei äußerte sich dagegen die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles: „Seit 100 Tagen setzt die SPD den Koalitionsvertrag Schritt für Schritt um. Denn für uns ist er Auftrag und Richtschnur“, sagte sie der „Welt“.