In nur fünfeinhalb Stunden haben 3500 Menschen die Buslinie zum ehemaligen Luftkurort Schnöggersburg genutzt – ein einmaliges Angebot beim Tag der Offenen Tür des Gefechtsübungszentrums (GÜZ) des Deutschen Heeres nördlich von Magdeburg. Der Andrang war nachvollziehbar: Die Besucher durften in der Colbitz-Letzlinger Heide erstmals einen Blick auf die Großbaustelle auf dem sonst abgesperrten Truppenübungsplatz werfen. Dort entsteht mitten in der scheinbar endlosen Heide unter anderem die erste U-Bahn-Linie in Sachsen-Anhalt. Fahrgäste wird sie allerdings niemals transportieren. Denn Schnöggersburg ist eine Übungsstadt des Militärs.
Entsprechend dominiert enttäuschendes Betongrau in der weitläufigen Anlage, die in Teilen im kommenden Oktober offiziell an das GÜZ übergeben wird. Fensterscheiben haben die Häuser nicht, auch keine Heizung, geschweige denn Möbel oder Tapeten. Lediglich 19 Bauten werden winterfest gemacht, um der übenden Truppe als Aufenthalts- und Übernachtungsmöglichkeit zu dienen. Rund 1500 Soldaten, so die Bundeswehr, werden gleichzeitig in der Anlage trainieren können. Sie ist etwa so groß wie der Flughafen Düsseldorf und umfasst im Endstadium 520 Gebäude, Straßen und Plätze, ein Industriegebiet einschließlich Wasser- und Umspannwerk und weitere typische Infrastruktur eines urbanen Ballungsraums wie eine Schule oder ein Gefängnis.
Der Flugplatz mit einer 1700 Meter langen Startbahn ist bereits von einem „Transall“-Transporter der Luftwaffe erfolgreich getestet worden. Künftig soll hier die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Krisenlagen und Bürgerkriegen im Ausland geübt werden. Gedacht ist aber an alle heute vorstellbaren Herausforderungen für die Bundeswehr und ihre Verbündeten - von humanitärer Hilfe nach einem Krieg oder einer Naturkatastrophe über eine Stabilisierungsoperation in einer Unruheregion bis hin zu einem längeren Gefecht.
Jeder deutsche Soldat soll künftig vor seinem Auslandseinsatz etwa zwei Wochen lang in Schnöggersburg vorbereitet werden. Denn Krisen und Kriege würden schon jetzt meist in urbanen Räumen entschieden, heißt es. Alles soll so realitätsnah wie möglich sein: Wenn der Übungsbetrieb beginnt, werden deshalb bis zu 600 Rollenspieler eingesetzt, die regionale Machthaber, örtliche Milizen, Banden oder Zivilisten darstellen. Gefechtslärm, Tumult und Hilferufe können über Lautsprecher eingespielt und sogar Gerüche eingeblasen werden. Denn auch damit müssen Soldaten im Einsatz fertig werden, wobei der Gestank monatelang nicht beseitigten Mülls noch die geringste Herausforderung darstellt.
Sogar das Haus eines „Warlords“, eines illegalen Kriegsherren, haben die Baufirmen errichtet – samt geheimem Fluchttunnel in die Kanalisation, wie der begleitende Major verriet. Die Brücken über den Fluss Eiser, der bereits Wasser führt, können hydraulisch verschoben werden, um ihre Sprengung zu simulieren. Ungezählte aufeinandergestapelte Container stellen ein unübersichtliches Flüchtlingslager dar. Skurril wirkt der Stadtteil „zerstörte Infrastruktur“: Die beschädigten Häuser haben kein Dach, die Mauer-Fragmente sind abgerundet und Einschusslöcher „ordentlich“ und ohne scharfe Kanten über die Fassade verteilt – offenbar soll es nun doch nicht so realistisch sein, dass die Verletzungsgefahr zu groß wird.
Die interkulturelle Kompetenz fördern
Bei der Kirche am Rand der Altstadt übt sich die Bundeswehr in deutscher „Political Correctness“: Es sei „ein Sakralbau“, erläutert der Begleiter. Bewusst seien Elemente von Moscheen, Tempeln und christlichen Kirchen gemischt worden, um keine Glaubensrichtung zu verärgern. Ein solches Gebäude sei aber wichtig, um „einen Beitrag zur Steigerung der interkulturellen Kompetenz der übenden Truppe zu leisten, weil Gebäude dieser Art besonderen völkerrechtlichen Schutz vor kriegerischen Handlungen genießen“, betont die Bundeswehr.
Schnöggersburg ist der Name eines verschwundenen kleinen Luftkurorts in der Nähe. Er musste ab 1933 geräumt werden, als dort eine Heeresversuchsanstalt entstand. Nach der Wehrmacht kamen die Russen und legten den größten Truppenübungsplatz in der DDR an – die Altlasten bereiten noch immer Probleme. In Neu-Schnöggersdorf wird, wie auf dem gesamten übrigen Truppenübungsplatz Altmark, nicht mehr scharf geschossen. Dafür sorgt die Simulationstechnik des Düsseldorfer Rüstungsunternehmens Rheinmetall: Sensoren zeigen Laserstrahl-Treffer an, alle Übungsteilnehmer und Fahrzeuge sind vernetzt, so dass anschließend Analysen des Geschehens möglich sind. Die Trainingsstadt muss komplett verkabelt werden, weil die Positionsermittlung der Soldaten in engen Gassen, in Abwasserkanälen oder innerhalb von Gebäuden nicht über ein Satelliten-gesteuertes System möglich ist.
Bundeswehr-Kasernen mit Namen von Wehrmachtsangehörigen
Rommel-Kaserne (Dornstadt), militärischer Widerstand
Generalfeldmarschall Erwin Rommel (1891-1944) war wegen seiner Kriegsführung in Afrika als „Wüstenfuchs“ bekannt. Seine Rolle im militärischen Widerstand ist umstritten. Er sympathisierte mit der Bewegung, war aber nicht am Attentatsversuch auf Hitler beteiligt.
General-Dr.-Speidel-Kaserne (Bruchsal)
General Hans Speidel (1897-1984) war im Zweiten Weltkrieg Stabschef der Heeresgruppe B (N-Frankreich) unter Rommel. Er kam 1944/45 als Angehöriger der militärischen Widerstandsbewegung in Haft.
General-Fellgiebel-Kaserne (Poecking), militärischer Widerstand
Erich Fellgiebel (1886-1944) war als Chef des Heeresnachrichtenwesens an der „Operation Walküre“ beteiligt. Er wurde anschließend zum Tode verurteilt und ermordet.
Generaloberst-Beck-Kaserne (Sondthofen), militärischer Widerstand
Der ehemalige Generalstabschef des Heeres, Ludwig Beck (1880-1944), war im Mittelpunkt der militärisch-bürgerlichen Opposition. Beck war ebenfalls am Attentatsversuch beteiligt. Nach dem Scheitern des Anschlags wurde er erschossen.
Franz-Josef-Strauß-Kaserne (Altenstadt)
Der ehemalige CSU-Verteidigungs- und Finanzminister Franz-Josef Strauß (1915-1988) war im Zweiten Weltkrieg Soldat. 1944 wurde er Oberleutnant. Er wurde später als politisch unbelastet eingestuft.
General-Heusinger-Kaserne (Hammelburg)
General Adolf Heusinger (1897-1982) wusste vom Unternehmen Walküre, war aber nicht beteiligt. Nach dem misslungenen Attentat wurde er verhaftet, aber wieder entlassen.
General-Steinhoff-Kaserne
Luftwaffengeneral Johannes Steinhoff (1913-1994) galt im Zweiten Weltkrieg als erfolgreicher Jagdflieger. Später wurde er Inspekteur der Luftwaffen und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.
Henning-von-Tresckow-Kaserne (Schwielowsee), militärischer Widerstand
Henning von Tresckow (1901-1944) entwickelte mehrere Attentatspläne auf Hitler mit; darunter der Anschlagsversuch vom 20. Juli 1944. Er gilt als eine der Figuren im militärischen Widerstand gegen Hitler.
Generalleutnant-Graf-Baudissin-Kaserne
Wolf Graf Baudissin (1907-1993) diente im Zweiten Weltkrieg zuletzt im Stab von Rommel. Später machte er Karriere in der NATO und als Bundeswehr-Reformer: Sein Name ist mit dem Begriff „Staatsbürger in Uniform“ verbunden.
Major-Karl-Plagge-Kaserne (Pfungstadt), militärischer Widerstand
Wehrmachtsoffizier Karl Plagge (1897-1957) bewahrte im Zweiten Weltkriegs etwa 250 ihm zugewiesene jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung in Vernichtungslagern.
Freiherr-von-Boeselager-Kaserne (Munster), militärischer Widerstand
Philipp Freiherr von Boeselager (1917-2008) und sein älterer Bruder Georg (1915-1944) werden dem militärischen Widerstand zugerechnet. Sie planten ein Pistolenattentat, Philipp beschaffte den Sprengstoff für das geplante Attentat am 20. Juli 1944.
Henning-von-Tresckow-Kaserne (Oldenburg), militärischer Widerstand
Henning von Tresckow (1901-1944) entwickelte mehrere Attentatspläne auf Hitler mit; darunter der Anschlagsversuch vom 20. Juli 1944. Er gilt als eine der Figuren im militärischen Widerstand gegen Hitler.
Feldwebel-Lilienthal-Kaserne (Delmenhorst)
Diedrich Lilienthal (1921-1944) gehörte zu einer Panzerjäger-Abteilung, mit der er mehrere russische Panzer zerstörte.
Peter-Bamm-Kaserne (Munster)
Der Schriftsteller und Chirurg Peter Bamm (1897-1975) arbeitete im Zweiten Weltkrieg als Stabsarzt im Felde.
Schulz-Lutz-Kaserne (Munster)
Adelbert Schulz (1903-1944) war Hauptmann einer Panzer-Division.
Lent-Kaserne (Rotenburg/Wümme)
Luftwaffenoffizier Helmut Lent (1918-1944) galt im Zweiten Weltkrieg als erfolgreicher Nachtjäger-Pilot.
Admiral-Armin-Zimmermann-Kaserne (Wilhelmshaven)
Armin Zimmermann (1917-1976) machte im Zweiten Weltkrieg Karriere bei der Kriegsmarine, später wurde er Admiralstabsoffizier bei der NATO und Generalinspekteur der Bundeswehr.
GM-Freiherr-von-Gersdorff-Kaserne (Euskirchen), militärischer Widerstand
General Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff (1905-1980) gehörte zum Widerstandskreis von Stauffenberg. Ein Sprengstoffattentat auf Hitler, das Gersdorff 1943 durchführen sollte, scheiterte.
Theodor-Blank-Kaserne (Rheine)
Der ehemalige CDU-Verteidigungs- und Arbeitsminister Theodor Blank (1905-1972) wurde 1939 zur Wehrmacht einberufen und kehrte 1945 als Oberleutnant aus der Gefangenschaft zurück.
Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne (Augustdorf), militärischer Widerstand
Generalfeldmarschall Erwin Rommel (1891-1944) war wegen seiner Kriegsführung in Afrika als „Wüstenfuchs“ bekannt. Seine Rolle im militärischen Widerstand ist umstritten. Er sympathisierte mit der Bewegung, war aber nicht am Attentatsversuch auf Hitler beteiligt.
Philipp-Freiherr-von-Boeselager-Kaserne (Grafschaft-Gelsdorf), militärischer Widerstand
Philipp Freiherr von Boeselager (1917-2008) und sein älterer Bruder Georg (1915-1944) werden dem militärischen Widerstand zugerechnet. Philipp beschaffte den Sprengstoff für das geplante Attentat am 20. Juli 1944.
Feldwebel-Anton-Schmid-Kaserne (Blankenburg)
Anton Schmid (1900-1942) half als Feldwebel im besetzten Litauen Juden des Wilnaer Ghettos. Der Staat Israel hat ihm den Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen, weil er als Nichtjude während des Holocaust sein Leben zur Rettung von Juden riskierte.
Graf-Stauffenberg-Kaserne (Dresden), militärischer Widerstand
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944) plante den Anschlagsversuch am 20. Juli 1944 mit und führte ihn aus. Er wurde in der Nacht danach mit seinen Mitverschwörern erschossen.
General-Olbricht-Kaserne (Leipzig), militärischer Widerstand
Friedrich Olbricht (1888-1944) gehörte zu den Mitverschwörern um Stauffenberg und war direkt am Attentat auf Hitler beteiligt. Auch er wurde erschossen.
Marseille-Kaserne (Appen)
Der Jagdflieger Hans-Joachim Marseille (1919-1942) wurde im Zweiten Weltkrieg seiner vielen Abschüsse wegen als „Stern von Afrika“ glorifiziert.
Kai-Uwe-von-Hassel-Kaserne (Kropp)
Der ehemalige CDU-Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (1913-1997) leistete als Leutnant der Reserve bis 1945 Kriegsdienst.
Die Proteste gegen Schnöggersburg halten sich in Grenzen. Zwar scheiterte der Naturschutzbund „Nabu“ jüngst mit einer Klage dagegen, Aktivisten drangen auf das Gelände ein und entrollten ein Anti-Kriegs-Plakat, und die Linkspartei sprach gar von einem Übungsgelände für den verbotenen Bundeswehreinsatz im Innern. Aber Schnöggersburg liegt eher einsam, und das Projekt bringt neue Arbeitsplätze und Investitionen in die weitläufige Region.
Denn so viel Hightech und Beton hat ihren Preis: Die Kosten für Schnöggersburg sind seit dem ersten Spatenstich im November 2012 von ursprünglich 100 Millionen Euro auf 140 Millionen Euro gestiegen. Und, wie bei Großvorhaben üblich, hakt es beim Zeitplan: Nur der Flughafen wurde vorzeitig fertig. Der Übungsbetrieb in Schnöggersburg sollte 2016 starten, jetzt wird es Anfang 2018, allerdings noch ohne die Simulationstechnik. Die komplette Fertigstellung der Gesamtstadt ist nun für 2020 vorgesehen.