140 Millionen Euro für eine Geisterstadt Bundeswehr baut sich eigene Stadt für Orts- und Häuserkampf

Bahnhof, Kirche, Supermarkt und Hotel sind fast fertig. Doch in Schnöggersburg wird niemand wohnen: Die „Geisterstadt“ wird das größte Zentrum für den Orts- und Häuserkampf in Europa.

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Häuserkampf der Bundeswehr in Schnöggersburg. Quelle: Presse

In nur fünfeinhalb Stunden haben 3500 Menschen die Buslinie zum ehemaligen Luftkurort Schnöggersburg genutzt – ein einmaliges Angebot beim Tag der Offenen Tür des Gefechtsübungszentrums (GÜZ) des Deutschen Heeres nördlich von Magdeburg. Der Andrang war nachvollziehbar: Die Besucher durften in der Colbitz-Letzlinger Heide erstmals einen Blick auf die Großbaustelle auf dem sonst abgesperrten Truppenübungsplatz werfen. Dort entsteht mitten in der scheinbar endlosen Heide unter anderem die erste U-Bahn-Linie in Sachsen-Anhalt. Fahrgäste wird sie allerdings niemals transportieren. Denn Schnöggersburg ist eine Übungsstadt des Militärs.

So sieht es in der Geisterstadt der Bundeswehr aus
Quelle: Helmut Michelis
Quelle: Helmut Michelis
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Quelle: Helmut Michelis
Quelle: Helmut Michelis
Quelle: Helmut Michelis

Entsprechend dominiert enttäuschendes Betongrau in der weitläufigen Anlage, die in Teilen im kommenden Oktober offiziell an das GÜZ übergeben wird. Fensterscheiben haben die Häuser nicht, auch keine Heizung, geschweige denn Möbel oder Tapeten. Lediglich 19 Bauten werden winterfest gemacht, um der übenden Truppe als Aufenthalts- und Übernachtungsmöglichkeit zu dienen. Rund 1500 Soldaten, so die Bundeswehr, werden gleichzeitig in der Anlage trainieren können. Sie ist etwa so groß wie der Flughafen Düsseldorf und umfasst im Endstadium 520 Gebäude, Straßen und Plätze, ein Industriegebiet einschließlich Wasser- und Umspannwerk und weitere typische Infrastruktur eines urbanen Ballungsraums wie eine Schule oder ein Gefängnis.

Der Flugplatz mit einer 1700 Meter langen Startbahn ist bereits von einem „Transall“-Transporter der Luftwaffe erfolgreich getestet worden. Künftig soll hier die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Krisenlagen und Bürgerkriegen im Ausland geübt werden. Gedacht ist aber an alle heute vorstellbaren Herausforderungen für die Bundeswehr und ihre Verbündeten - von humanitärer Hilfe nach einem Krieg oder einer Naturkatastrophe über eine Stabilisierungsoperation in einer Unruheregion bis hin zu einem längeren Gefecht.

Jeder deutsche Soldat soll künftig vor seinem Auslandseinsatz etwa zwei Wochen lang in Schnöggersburg vorbereitet werden. Denn Krisen und Kriege würden schon jetzt meist in urbanen Räumen entschieden, heißt es. Alles soll so realitätsnah wie möglich sein: Wenn der Übungsbetrieb beginnt, werden deshalb bis zu 600 Rollenspieler eingesetzt, die regionale Machthaber, örtliche Milizen, Banden oder Zivilisten darstellen. Gefechtslärm, Tumult und Hilferufe können über Lautsprecher eingespielt und sogar Gerüche eingeblasen werden. Denn auch damit müssen Soldaten im Einsatz fertig werden, wobei der Gestank monatelang nicht beseitigten Mülls noch die geringste Herausforderung darstellt.

Sogar das Haus eines „Warlords“, eines illegalen Kriegsherren, haben die Baufirmen errichtet – samt geheimem Fluchttunnel in die Kanalisation, wie der begleitende Major verriet. Die Brücken über den Fluss Eiser, der bereits Wasser führt, können hydraulisch verschoben werden, um ihre Sprengung zu simulieren. Ungezählte aufeinandergestapelte Container stellen ein unübersichtliches Flüchtlingslager dar. Skurril wirkt der Stadtteil „zerstörte Infrastruktur“: Die beschädigten Häuser haben kein Dach, die Mauer-Fragmente sind abgerundet und Einschusslöcher „ordentlich“ und ohne scharfe Kanten über die Fassade verteilt – offenbar soll es nun doch nicht so realistisch sein, dass die Verletzungsgefahr zu groß wird.

Die interkulturelle Kompetenz fördern

Bei der Kirche am Rand der Altstadt übt sich die Bundeswehr in deutscher „Political Correctness“: Es sei „ein Sakralbau“, erläutert der Begleiter. Bewusst seien Elemente von Moscheen, Tempeln und christlichen Kirchen gemischt worden, um keine Glaubensrichtung zu verärgern. Ein solches Gebäude sei aber wichtig, um „einen Beitrag zur Steigerung der interkulturellen Kompetenz der übenden Truppe zu leisten, weil Gebäude dieser Art besonderen völkerrechtlichen Schutz vor kriegerischen Handlungen genießen“, betont die Bundeswehr.

Schnöggersburg ist der Name eines verschwundenen kleinen Luftkurorts in der Nähe. Er musste ab 1933 geräumt werden, als dort eine Heeresversuchsanstalt entstand. Nach der Wehrmacht kamen die Russen und legten den größten Truppenübungsplatz in der DDR an – die Altlasten bereiten noch immer Probleme. In Neu-Schnöggersdorf wird, wie auf dem gesamten übrigen Truppenübungsplatz Altmark, nicht mehr scharf geschossen. Dafür sorgt die Simulationstechnik des Düsseldorfer Rüstungsunternehmens Rheinmetall: Sensoren zeigen Laserstrahl-Treffer an, alle Übungsteilnehmer und Fahrzeuge sind vernetzt, so dass anschließend Analysen des Geschehens möglich sind. Die Trainingsstadt muss komplett verkabelt werden, weil die Positionsermittlung der Soldaten in engen Gassen, in Abwasserkanälen oder innerhalb von Gebäuden nicht über ein Satelliten-gesteuertes System möglich ist.

Bundeswehr-Kasernen mit Namen von Wehrmachtsangehörigen

Die Proteste gegen Schnöggersburg halten sich in Grenzen. Zwar scheiterte der Naturschutzbund „Nabu“ jüngst mit einer Klage dagegen, Aktivisten drangen auf das Gelände ein und entrollten ein Anti-Kriegs-Plakat, und die Linkspartei sprach gar von einem Übungsgelände für den verbotenen Bundeswehreinsatz im Innern. Aber Schnöggersburg liegt eher einsam, und das Projekt bringt neue Arbeitsplätze und Investitionen in die weitläufige Region.

Die Baustellen der Verteidigungsministerin
Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen steht wegen der Affäre um den rechtsextremen Offizier Franco A. unter Druck. Während sie von Seiten der Opposition und der SPD harte Kritik einstecken muss, sichert ihr die Kanzlerin "volle Unterstützung" zu. Und von der Leyen kündigt umfangreiche Aufklärung an. Doch der Fall "Franco A." ist nicht die einzige Baustelle der Verteidigungsministerin. Quelle: dpa
Bundeswehr-Personal Quelle: dpa
Skandale Quelle: dpa
Ausrüstung Quelle: dpa
Mängel Quelle: REUTERS
Das größte Sorgenkind ist das Transportflugzeug „A400M“ - rund neun Jahre ist dessen Auslieferung verzögert. Bislang besitzt die Bundeswehr acht von insgesamt 53 beim Hersteller Airbus bestellte Maschinen. Doch ist selbst deren Einsatz nicht uneingeschränkt möglich. Quelle: dpa
Einsätze Quelle: dpa

Denn so viel Hightech und Beton hat ihren Preis: Die Kosten für Schnöggersburg sind seit dem ersten Spatenstich im November 2012 von ursprünglich 100 Millionen Euro auf 140 Millionen Euro gestiegen. Und, wie bei Großvorhaben üblich, hakt es beim Zeitplan: Nur der Flughafen wurde vorzeitig fertig. Der Übungsbetrieb in Schnöggersburg sollte 2016 starten, jetzt wird es Anfang 2018, allerdings noch ohne die Simulationstechnik. Die komplette Fertigstellung der Gesamtstadt ist nun für 2020 vorgesehen.

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